Ich habe noch ein paar müde Notizen, die ich im Nachtzug nach Rumänien geschrieben habe:
Soeben in den Zug nach Bukarest eingestiegen, stell ich fest, dass ich nun ja wirklich in Wien gewesen bin. So lange daran gedacht und – vorbei, gesehen, geschehen.
Wien eine kaiserliche Perle, ein einziger Ballsaal, eine Naschstadt zugleich. Auf dem Markt, im Café (a Stückerl Sacher zum kleinen Braunen), im Geschäft (Mozartkugeln) – überall wird anscheinend was genascht. Selbst aus Mülleimern wurde fleissig genascht, und einmal wurde dabei vor dem Stephansdom ein angelutschtes Erdbeereis herausgefischt. Die Würstelbuden bieten Bosnawurst und Hühnerkebap. Über seit lang heruntergezogenen Storen ein altes Ladenschild mit goldenen Lettern „Stambulija“. Am bläulichen Septemberhimmel hingen wollige Wölkchen über dem eierschalenfarbenen Hinterhof. Abgesehen von mir sehen das noch die Tauben auf dem Kiesdach des Nachbarhauses.
Im braunbezogenen Sechserabteil, das ich mit drei Rumänen teile, höre ich seit zwei Stunden Unisono ununterbrochen Rumänisch, wenn das bis morgen so weiter geht, bin ich wohl um 13h40 des Rumänischen mächtig. Italienisch, Russisch, Französisch scheinen ineinander zu verwachsen, und ich versuche jeweils einen Faden dieses Knäuels aufzunehmen. Die Spur verliert sich jedoch immer wieder, und es bleibt bei einzelnen verständlichen Brocken. Es steht „Vagon climatizat“, und es wird tatsächlich etwas kühl. Der schwerleibige Mann in unserem Abteil spricht viel zu viel, ich versteh meine eigenen Gedanken bald nicht mehr. Teilweise springen einzelne Wörter hervor wie „mafia“, „bandit“, krankenschwester, „televizör“, „polizischt“. Ich versuche den Kaukasischen Kreidekreis zu lesen.
Die Fahrt dauerte 16 Stunden, eingentlich eine teure Tortur in einem rumänischen Sitzabteil. So gesehen völlig absurd per Zug zu reisen und die günstige Variante zu wählen. Um zwei Uhr nachts war ich die einzige Person im Abteil und konnte mich somit über meinen Rucksack quer über die Sitze legen. Um neun Uhr morgens erwachte ich in Transsylvanien. Ich trat auf den Korridor hinaus und befand mich am Ende des Zuges und sah auf die vielen kleinen Tunnels durch die wir fuhren. Auf den Feldern waren Schafherden und Hirten, die im Gras lagen und Halme kauten. Wir fuhren an mehreren Pferdefuhrwerken vorbei, und die Bauern schnitten das hohe Gras mit Sensen.
Ich wäre sehr gerne ausgestiegen, doch ich war „unterwegs“. In Bukarest wurde ich von Adrian und seinem Vater abgeholt, bei denen ich in der Familie wohnen konnte. Das war ein äusserst nettes Erlebnis, und die liebe Mama wird mir in Erinnerung bleiben.
Bukarest hat ein kleines Zentrum, das entweder im totalen Verfall oder in totaler Renovierung ist. Die Strassen sind alt und staubig, die vielen langen Risse in den alten schmucken Häusern zeugen von Brüchigkeit und Verschwinden einer zu erahnenden Epoche.
Hunde streunen durch die Strassen, alle mager und ziemlich aggressiv. In Hauseingängen schlafen alte Frauen manchmal. Ich sitze am liebsten in der Pasaj ….., wo man sich in einem überdachten Rondell befindet. Der Aufenthalt besteht auch aus viel Spazieren, Leute beobachten und deren Gespräche zu verfolgen, abends was trinken gehen und Narghila (Wasserpfeife) rauchen.
Adrian und seine Freundin begleiteten mich zum Bahnhof, wo ich den Zug nach Istanbul suchte. Zuerst kaufte ich mir für die Reise noch zwei Brötchen an einem offenen Bäckereistand, wo ich Zeugin eines Brötchendiebstahls wurde. Ich stand etwas hinter einem Typ mit verschlagenem Gesichtsausdruck. Während des Wartens hob er ganz langsam, die Bewegung dauerte ewig, seine Hand zum Brötchentablett und krallte blitzschnell ein kleines goldiges Süssbrot. Da es ihm in der Eile aus der Hand fiel, schubste er es mit dem Fuss unter den Ladentisch und begann erneut ganz langsam die Hand auszustrecken. Es sah unheimlich aus. Dabei ging es nur um ein Brötchen. Dennoch hatte man das Gefühl, als ob eine Hand sich um das eigene Herz schlingt. Eine Frau neben mir sah ebenfalls zu, doch sie hätte ebenso wenig gewagt etwas zu sagen. Ich dachte mir, es ist ja nur ein kleines, nicht mal sehr gutes Brötchen für kaum einen Franken. Umso tragischer und einschneidender schien mir das Erlebnis kurz nach meiner Ankunft, als ein altes Ehepaar beim Imbissstand sein Geld vermisste. Die alte Frau, man sah sie kaum in ihren grossen Kleidern und eingehüllt in ihr Kopftuch, schrie grausam laut, riss das Kopftuch weg und raufte sich die Haare. Sie beschuldigte ein paar junge dunkle Männer, die dort mit vielen Säcken sassen und locker zurückgelehnt keine Miene verzogen. Ihr Mann schaute sehr bekümmert und beschämt und versuchte ruhiger als das schimpfige Weiblein zu bleiben. Seine Arme hoben und senkten sich hilflos im dunkelbraunen Sakko. Alles was er tun konnte, war seine Frau zu beruhigen oder schlichtwegs zum Schweigen zu bringen. Das ist eine aus 1001 Millionen offenen Geschichten des Gara de Nord.