November 26, 2009

Mandelstadt

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 12:44 pm

In der dünnen russischen Winterluft findet die Schwalbe im Flug keine Nahrung. Ihre Lieder werden zu fallendem Eis und zerplatzen stumm wie Feinglaus auf der Erde. Die Schwalbe flieht den Norden und den Schwarm, krallt die Schwalbenfüsse in warme süditalienische Erde und schlägt Wurzeln in Neapolis, der Stadt der Granita a Mandorla, süss, theatralisch, mit offenen Geheimnissen. «Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein», die schwachen Lungenflügel schlagend. Das war damals, als das Luftholen auch im Stadtzentrum Wohltat war. Heute verdichtet sich Lärm und ätzender Gestank der Vespen zu Schwindel und einem eigentümlichen Krampf oberhalb der Nasenwurzel. So, dass man fürchtet, dass einem noch der letzte Gedanke an vergangenen Traum herausgerissen wird. In einem Traum habe ich dich nämlich in Neapel gesehen. Ich habe die Statuen, die Aggrippina im Museum gefragt, ob sie dich auch gesehen haben. Es scheint, sie können sich nicht recht an dich erinnern, aber selbst eines blaugelb gekleideten Dichters mit Aquarellblock können sie sich nicht mehr entsinnen. Vieles rauscht an diesem glatten, geschliffenen Marmor vorbei. Im Traum zumindest habe ich dich in Neapel gesehen. Du warst zum Neapolitaner mit Knollennase geworden. Du hast dich sichtlich hier niedergelassen: Nichts mehr zu sehen von deiner Flüchtigkeit. Du verlagerst nur noch deine körperlichen Schwerpunkte – aus der kleinen Dichterwohnung in die Bar um die Ecke, wo all die anderen Männer sitzen. Von der Parkbank rauchend auf die Schwelle eines Ladeneingangs. Vielleicht lauschst du Caruso, der das goldene Horn des Grammophons in Schwingung versetzt und das Kätzchen auf der Wolldecke weckt. Ein mürrischer und etwas selbstzufriedener Stadtpoet bist du vielleicht geworden. Du wiegst schwer irgendwo zwischen Nord- und Südpol und denkst vielleicht an den Norden. An hier unbekannte Farben, an ein weit entferntes Blauweiss. Ich sah dich an der Theke einer Bar mit Männern im Bass plaudern. Pulcinella plaudert hier schamlos in beliebiger Gesellschaft deine Geheimnisse aus. Er gibt sie den Bienen und den Tauben mit. Deine Geheimnisse sind scharfe Honigbisse zuckersatter Bienen, die um die Granita schwirren. Die graublauen Tauben breiten deine Geheimnisse schimmernd auf ihren Fächern aus und fächeln dabei Lüftchen. Hier brauchst du deinen Mantel nicht, das warme Tier. Federn reichen. Ein Flug aus dem Mantel- ins Mandelland, Mandel‘stam.