March 29, 2010

Stuendeler Huendeler

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 7:47 pm

Hundeleben in Indien. Ein Leben als Hund. Hunde leben in Indien. In Indien “leben” Hunde. Eine kleine Auslegeordnung zum Thema. In Indien ist ein richtiges Hundeleben moeglich. Mager, zerlaust, rippig, aufgedunsen, von Kraetze befallen sind die schwaecheren, die missmutigeren, die sich winselnd, flehend auf den Boden werfen oder ploetzlich aus mutiger Dummheit irgendwo zubeissen. Die anderen, die etwas staerkeren eben, sind sicher genauso windigen Charakters, doch sie halten sich gut, denn sie sind schlauer. Sie laufen mit Touristen als treue Begleiter mit, lassen sie Sicherheit und Treue spueren, bis sie ein Stueck Fisch bekommen oder dann doch einfach als Schleimer entlarvt und mit dem einheimischen “Hep!” weggejagt werden. Das ist das Hundeblicktraurige: Obwohl sie sich im Rudel so stark fuehlen, und ganze Straende unsicher machen, sucht sich jeglicher Klaeffer irgendwie den Bezug zu einem Menschen. Zurueck zum Wolf, das ist zu spaet. Das koennen sie nicht mehr. Der Mensch ist ihre Gnade. Indische Hunde fristen ein Leben unter absoluter Menschengnade: Sie werden genaehrt, verstossen, verjagt, getreten, gefuettert, beworfen – aber nicht getoetet. Mehrmals jaehrlich bringt die Huendin neue und wieder neue Geschoepfe zur Welt. Es sind samtweiche kleine Welpen, die in den Ressorts von Touristen gepaeppelt, von Kindern gehaetschelt und getaetschelt werden. Man liebt das Leben, solange es jung ist. Wie die Hunde ausgewachsen sind, traegt die Hundemutter bereits die naechste Generation. Ihre Zitzen sind so gross, man meint, man könnte dieses Tier melken wie eine Kuh oder eine Ziege. An jungen Hunden fehlt es nie – ein wahrer Jungbrunnen. Die Alten muessen sich selbst durchzuschlagen wissen. Manche mausern sich zu tatsaechlich treuen Dienern, die den Weg nach Hause zeigen, andere Hunde verscheuchen und ergeben vor der Huette warten. Andere kaempfen sich sonst auf irgendwelche Art an den Menschen vorbei durchs Leben. Sie fahren Schiff, Zug, warten an Bahnhoefen, baden am Strand. Richtige Stuendeler.
Kuerzlich bestieg einer mit uns das Schiff nach Long Island in Rangat. Ein schlanker Hellbrauner mit glattem Fell. Ein angetrunkener Bordmechaniker suchte ihn anfaenglich, vergass ihn im Laufe der Ueberfahrt aber dann. Kurz vor Long Island entdeckte er denselben wieder, als dieser am Bordrand stand und scheinbar irgendwohin aufs Meer hinausschaute. Also schlich er sich heran, und befoerderte den Braunen mit einem kurzen heftigen Tritt ins Wasser. Es waren noch ein paar hundert Meter bis zum Ufer. Der Hund tat nichts anderes als hinter dem Schiff hinterher zu schwimmen. Er folgte deutlich der Fahrspur, den Kopf knapp ueber Wasser und eilig paddelnd. Ich war froh, jaulte er nicht und schwamm irgendwann endlich direkter auf die Insel zu. Er wuerde es schaffen, wussten wir nach ein paar Augenblicken. “Idiot”, zischten wir boese ueber den Mechaniker. Was ist das fuer eine Gnade, aus Prinzip “nie” aber “beinahe” umgebracht zu werden?
Ich stand noch einige Minuten am Pier und hielt nach dem Tier Ausschau. Ich frage mich immer noch, ob ich hinausgeschwommen waere, um es dort rauszuholen, waere es wirklich noetig gewesen. Nun? Waere ich, waere ich nicht? Zum Glueck muss ich das nicht beantworten, denn der Hund lebt jetzt auf Long Island …

Die Schneiderkatze

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 7:42 pm

Eines schwuelen Abends auf den Andamaneninseln liefen wir bereits im Dunkeln die betongepfadete Strecke ins Inseldorf hinunter. Wir waren derzeit auf Long Island, einer kleineren, menschenleeren Insel. Das Dorf bestand aus notduerftig gebauten Huetten und Bretterverschlaegen. Zu gewissen Tageszeiten glich die Siedlung einer verlassenen Goldminenstadt. Dort, in dieser verlassenen Ortschaft, oeffneten sich jedenfalls die Fenster und Ladentueren erst, sobald es dunkelte. Erst dann erwachten die Buden zu Leben und knatterte aus Transistorradios der letzte Bollywoodhit.
An jenem Abend bedurfte ich eines Schneiders, um an meinem Lunhgi (Wickeltuch, ueblicherweise von Maennern getragen) einen Saum naehen zu lassen. Tatsaechlich fanden wir zwei Schneider im Dorf. Der Juengere hatte seinen Laden ziemlich voll, auch quoll es daraus an Stoffen nur so hervor. Der Aeltere hingegen stand in einem puppenstubenkleinen Lokaelchen. Seine lange weissgekleidete Gestalt wiegte sich langsam, waehrend er mit dem Buegeleisen einen dicken Stoff glaettete. Bei ihm spielte ein rotes Kaetzchen mit einem Fadenknaeuelchen auf dem Schneidertisch. Unter der Tischplatte schielte ein Hund hervor.
Wortlos trat der Schneider einen kleinen Schritt auf mich zu und begutachtete den Lunghi, indem er ihn in der Luft entfaltete. Kein Wort war noetig. Auch nicht meine kurze Begruessung und der Hinweis auf den ausgefransten Stoffrand, der sich immer weiter in den schwarzen Stoff frass.
Der Schneider stellte das Buegeleisen zur Seite, wedelte langsam mit der Hand, was dem Kaetzchen galt, das dem heissen aufgerichteten Dreieck zu nahe kam, und eine deutliche Sekunde lang strich die lange trockene Hand ueber das rote feine Fell. Der Schneider setzte sich behende an die alte Tretnaehmaschine und zog von irgendwoher einen fast unsichtbaren Faden hervor. Er suchte mit grossen Augen das Nadeloehr. Das Kaetzchen pfoetelte nun fein gegen den Finger des Schneiders und den Faden, dann drehte es auf der Naehmaschine eine Runde und sprang auf den Boden. Der Hund, der sich vor Langeweile den Kopf auf die Pfoten gelegt hatte, wachte schlagartig auf und schlich langsam dem Kaetzchen hinterher, das aus dem Laden beinelte. Der Schneider hielt gerade einen Moment inne, er hatte das Oehr gefunden und den Stoff nun unter die Nadel gezogen. Ich sah den Hund im heimlichen Anlauf auf die Katze, welche sich schon buckelte, als ganz unerwartet ein langer Bambusstock aus dem Fenster auf den Hund hinabschnellte, so zischend und knallend, dass dieser laut aufheulte und von der Katze wegsprang. Der Hund wurde einsilbig an seinen Platz verwiesen, und das Kaetzchen trabte siegreich zurueck und sprang wieder auf den Schneidertisch. Der Schneider trat aufs Pedal und der schwarze Stoff glitt durch Daumen und Zeigefinger. Das Kaetzchen beobachtete, sprungbereit. Der Schneider drehte den Oberkoerper zur Seite, streckte sich zu einem Faden und rollte ihn zwischen den Fingern zu einem Kuegelchen. Das Kuegelchen legte er auf die stoffige Unterflaeche und spickte es lautlos weg. Das Kaetzchen frohlockte mit kleiner Kralle. Der Schneider fuhr fort. Der plumpe Huempu seufzte, der Arme. Dies war nicht seine Geschichte. Am Ende des sanften Stoffes schnitt der pharaonenhafte Schneider mit langer Schere den Faden entzwei.

March 27, 2010

Sengende Wuensche

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:05 am

Als wir in Tirupati ankamen, war es ein Uhr nachts. In der blau getuenchten Bahnhofshalle lagen Menschen kreuz und quer mit ihren Kindern, Buendeln und Decken auf dem Boden. Hunde streunten durch das Menschenlabyrinth, Essensreste und Pfuetzen aufleckend.
Noch konnten wir die Wunderkraft dieses Pilgerortes nicht erahnen. Mit muedem Blick nach langer blauer Zugfahrt nahmen wir die Hoffnungen auf ein Wunder ringsum wahr: Man war gekommen, koerperlich versehrt oder auch gesund, um dem schwarzen Gott Venkateshwara, Vishnus Reinkarnation, auf dem Berg zu huldigen und daraufhin einen Wunsch erfuellt zu bekommen.
Spaet nachts suchten wir nach einer Unterkunft. Alles schlief. Die Luft stand erbarmungslos still. Erste Tropfen ueber den Lippen. Endlich finden wir eine passable Unterkunft. Die Liftfluegel gehen auf, und Ganesha schaut in den Lift. Wir sind tropfnass. An Ganesha vorbei zur letzten Zimmertuer des Ganges. Der Ventilator brummt traege, man atmet, was man kann. Das Fenster laesst sich zunaechst nicht oeffnen. Atmen, atmen.
Nach einer lauen Dusche sinken wir traege aufs Bett. Der naechste Tag bricht an, nahtlos, ohne Uebergang. Die schwarze Hitze wird nun weiss, sengend, verbrennend. Phaeton muss zweifellos hier mit seinem Feuerwagen vorbeigestoben sein auf seiner ersten und letzten Abenteuerfahrt, die ganze Gegenden versengte. In einem Hotelrestaurant brummen die kleinen braunen Ventilatoren. Eine Fliege klebt an meinem kalten beschlagenen Glas. Die sandige Strasse vor der Fensterfront blendet. Die Menschheit da draussen ist bis auf wenige Ausnahmen vollstaendig kahl. Mir ist, als versenge die Hitze hier selbst die Haare. Frauen in Saris sehen ploetzlich etwas unheimlich aus. Kinder wirken ploetzlich wie kleine Greise und Greisinnen mit zu grossen Koepfen.

Tirupati Pilgrims

In Wahrheit ist der Gott der Grund fuer die Kahlheit. Er fordert Pilgerhaar, und das tonnenweise. Gegen Tonnen von Wuenschen. Was davon ist schwerer? Ein Haar oder ein Wunsch?
Fuer einen Wunsch opfert der Hindupilger sein ganzes Haar. Uebrig bleibt nur ein dunkler Streif entlang des Scheitels, der Sonne Brandmal.
Nach dem Fruehstueck wasche ich mir die Haende. Das Wasser ist so kochend heiss, dass ich mir beinahe die Finger versenge. Der schwarze Wassertank auf dem Dach muss kurz vor der Explosion stehen. Wir gehen die Treppen hoch aufs Dach. Da oben flimmert es. In einer Ecke an der Bruestung haeufen sich leere Schnapsflaschen. In der Mitte des Dachs steht ein grosser Holzofen, der stark raucht. Mehrere Maenner, schwarz von der taeglichen Arbeit unter dieser Sonne, feuern diesen mit Kokosnussschalen ein. Dahinter finde ich die Toiletten. Das Wasser in den Kuebeln ist warm. Es ist die Hoelle auf den Daechern, von denen man auf den Tempel hinunter sieht. Hier fanden wir die beste Aussicht.
Wir gehen langsam wieder in die Welt hinunter. Unsere Glieder, unsere Zungen sind lahm. Wir denken so weit, wie unsere Schritte reichen. Die Sonne hat uns. Sie durchleuchtet unsere Gedanken. Die Hitze zeigt uns so wie wir sind. Geschichten und Erinnerungen zerfallen, verlaufen. Es ist zu heiss fuer Geschichten. Die Sonne loescht so einiges aus, fuer eine Weile. Ich spuere Existenz. Selbst fuer die Liebe ist es zu heiss. Die Augen des schwarzen Gottes lasten ueberall auf einem.
Was bleibt einem infolge dessen anderes uebrig, als gleich den Glaeubigen einen Wunsch zu aeussern? “Bring uns fort von hier, grosser Venkateshwara, bring uns auf die fernen, luftig-feuchten Andamanen. Halte das Schiff auf, moege es einen Tag spaeter auf die hohe See auslaufen. Grosser, schwarzer Venkateshwara”, ich riss mir ein Haar aus, “bring uns weg von hier”.
Am Abend schauten wir von der Dachterrasse zum beleuchteten Goetterberg hinueber. Wie viele Menschen wohl an diesem Abend des dunklen Gottes ansichtig wurden? Und wir, die wir uns mit seinem Abbild ueber unserem Bett begnuegten.
Diesen Moment sitze ich in einer luftigen bastenen Huette, aehnlich einer Schmuckschatulle, auf den Andamanen und frage mich, wie schwer Wuensche wiegen. Der Gott sitzt nach wie vor in Tirupati und schweigt hierzu.

Blauer Zug

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:04 am

Vier Tage Pondicherry. Nun fahren wir gleich weiter nach Andhra Pradesh. Mit einem Bummlerzug. Um 23 Uhr, heisst es, kommen wir an in Tirupati. David sitzt auf der Bank am Perron. Ich schaue ihn durch die blauen Gitterstaebe an. Auf dem Sims steht der kleine Pappbecher mit dem Chai. Auf dem Sitz gegenueber liegt das Buch Ramayana fuer die Fahrt bereit. Noch ist das Abteil leer, und die Ventilatoren an der Decke stehen still. Man sieht den Sitzen an, dass sich taeglich unzaehlige Menschen hier einrichten. Auf den Sitz Nr. 49 mir schraeg vis-a-vis setzt man sich hundert Mal, oder zweihundert Mal? Es ist das leerste Abteil, das ich je gesehen habe. Noch nie habe ich solche Leere, Stille in Indien erlebt, dass es mir auffiel, dass sie fast “laut” war. Die Stille erzaehlt hier ihre Geschichten. Ich versuche sie mir ganz fest einzupraegen. Wozu, weiss ich nicht. Ich will sie einfach behalten. Ein zweiter Passagier betritt das Abteil. Es ist ein kleiner aelterer Mann im weissen Hemd. Kurz darauf folgt seine Frau im orangen Sari. Die Nr. 49 natuerlich immer noch leer. Drei Flecken hats dort auf dem Sitz. Der dunkelblaue Plastikbezug ist stark abgeschossen. Ein Passagier, ein Kind, hat daran immer weiter rumgekratzt – ganz beilaeufig, in Gedanken versunken, waehrend der Fahrt. Eine grosse wuchtige Frau gesellt sich zur kleinen Gruppe. Die offene Seite des Saris laesst zwei grosse regelmaessige Bauchwuelste sehen. Einige Minuten spaeter hat sie die Arme wie zwei Riesenschlangen um den Kopf geschlungen und schlaeft, den schweren Kopf auf die kleine Reisetasche gebettet. Nordindische Touristen mit Rollkoffern gehen ernsthaft am Fenster vorueber. Die Maenner sind glattrasiert und tragen gefaerbtes Haar. David hat an uebersehbarer Stelle einen blauen Schalter auf blauer Wand gekippt. Die Ventis laufen. Maenner starren ins Abteil. Nieamand spricht. David erhaelt einen Anruf. Es ist Kumar, unser Nachbar von der Breitenrainstrasse. Alle Typen schauen gebannt beim Telefonieren zu. Kumars Mutter lebt in Pondi. Wir hatten eine falsche Nummer gehabt und konnten sie deshalb nicht besuchen. Als Kumar anrief, um die richtige mitzuteilen, war es also leider zu spaet.
Eine schwangere Frau, ganz in Hellrosa sitzt auf Nr.49, neben ihr ein kleines Maedchen. Ein Mann wankt muehselig an meinem Fenster vorbei und laesst sich auf eine Bank fallen. Er ist nicht alt, doch seine Beine sind alt. Sie scheinen nur noch mit aeusserster Anstrengung den oberen Koerper tragen zu koennen. Zittrig streben sie auseinander, als waeren sie aus altem Holz. Die Fusssohlen eines Elefanten: Endlos gelaufen.
Das Abteil fuellt sich bis auf den letzten Sitz und die Gepaeckablage.
Waehrend der Fahrt teile ich einmal den Sitz mit einem Maedchen.
Auf Nr. 49 wechselten in den ersten Stunden die Fahrgaeste fuenf Mal, dann hoerte ich auf zu zaehlen. Tirupati erreichten wir weit nach Mitternacht.

Smalltalk im Paradies

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:03 am

Wir fuhren nach Kodaikanal. Es war eine Busfahrt wie manche. Der touristische Bergort zeigte sich zunaechst von seiner anstrengenden Seite. Wie immer, wenn man muede und krank ist. Wir fuhren aus der Stadt hinaus auf eine Farm. Eine Aussteigerfarm, die Karunafarm.

Karuna Farm, Kodaikanal

Ein paar Tage aussteigen: aus der Stadt in die Natur, aus dem Laerm in die Stille, aus der Reise mit all den Besichtigungen in eine scheinbare Sesshaftigkeit mit einem stagnierenden Bild. Das Bild: Eine kleine Huette auf einem Huegel und eine Aussicht auf einen dicht bewachsenen Hang, der sich gegen die heissen Ebenen Tamil Nadus hinunterzieht. Hibiskusblueten, Kaffeestraeucher, Zitronen. Wir sitzen vor dem Huettchen, spielen Schach. Zu reden gibt es wenig. Es ist alles so klar. Keine Langweile, kein Sehnen. Abundzu kochen wir Zuckerbananen. Lesen am schattigen Bach. Auf die Ebenen hinunterschauen von einem grossen Felsen aus.
Es gibt verschiedene Leute auf der Farm. Alle in ihren verstreuten Huettchen. Abends trifft man sich, man isst, redet.
Nevil gehoert die Farm, er leitet sie als Besucherort. Einen Tag nach unserer Ankunft wandert er im weissen Lunghi und mit Wanderstab den Huegel hoch, richtung Bushaltestelle im nächsten kleinen Weiler. Er faehrt zur Kumbh Mela in Nordindien.
Die Farm ist nun seinen nepalesischen Gehilfen ueberlassen. Manchmal ruft er sie abends an.
Eine richtige Gemeinschaft trifft man auf der Farm allerdings nicht an. Zwar verleben manche Leute tatsaechlich eine laengere Zeit hier, doch die meisten reisen bald weiter. Ein englisches Paar hingegen lebt mehrere Monate im Jahr dort und ist dabei, ein sehr schoenes Yogahaus aus Lehm, Kokosfaser und Ziegeln zu bauen. Ich haette gerne mitgeholfen die paar Tage. Die Idee gefiel mir und v.a. die Umsetzung. In der Woche war ich aber zu krank und war mit der taeglichen Huegelwanderung am Hang bereits genug beschaeftigt.
Die Farm zieht ganz verschiedene Leute an. Im Kern ist die temporaere Zweckgemeinschaft stark links alternativ. In diesem Kern der Karunafarm sah ich vor allem die Vision des wahren, richtigen Lebens. Das Sharing dieser Vision basiert auf einer Art Rhythmus. Das heisst, wenn man mit diesem mitgeht, gehoert man zur Community.
Eines Abends sassen wir vor dem Haeuschen, das ein nordindisches Paerchen bewohnte. Der Mond stand senkrecht ueber uns und dem Lagerfeuer, wo wir eben gemuetlich Kartoffeln und Bananen mit Schokolade gebraten hatten. Jetzt ist es ein Moment lang still im Kreis der Unbekannten. Smalltalk plaetschert: “Indian food is so unhealthy”, “oh that poppy is sooooo cute”, “how long does it take to get to the bus stand on foot?”, “oh you know, i hate shopping, but i have to, because these chips are so fucking tasty …”, “oh fuck, these bananas were sooooo good” – “oh yeah man, they were really fucking good”. Im Hintergrund laeuft Thievery Cooporation. Cool sound. Auf einem iPhone wird nun andere Musik abgespielt, HipHop bis zu Sentimental. Ein blondes Maedchen, das sich tagsueber eher still zeigte, sitzt mit langem aufgeloesten Haar im Schneidersitz und beginnt zur Hintergrundmusik zu erzaehlen: “I ran away from home, when I was six”, sagt sie und laechelt traurig. “And also now, I don’t really know, if I will be able to go back home to South Africa. It is still a nazi system there.” Ihr Nachbar nickt langsam und sagt: “How is it in South Africa? You still feel the remainings of the former Apartheid system?”-“Oh, yeeeeah, definitely. It is so …”. Am Ende wird er ihr sagen, dass er noch nie in Afrika war, aber als erstes nach Rwanda reisen moechte. Die Musik hat laengst schon eine Wende genommen: Einer klimpert auf einer verstimmten Gitarre Bob Marley und einige singen dazu.
“Money makes mankind evil.”- “The problems are not about things. Money cannot be evil, it is the people.” Ein Joint macht die Runde. Jemand beginnt auf etwas zu trommeln, jemand spielt Mundharmonika, die Suedafrikanerin stimmt mit geschlossenen Augen einen heulenden irgendwie altgaelischen Gesang an (aehnlich wie die Saengerin von den Cranberries).
Der Typ mit der Gitarre fragt David: “How long have you guys been here?” – “Oh, quite a time, but not too long. One week. After tomorrow we are going to leave”. – “Quite a time, huh? You call that quite a time – one week,” meint er, weil er selber hier Monate verbringt.
Als waere uns das Paradies verwehrt? Dabei sind wir doch hier, jetzt gerade. Wenn auch nur eine Woche. Doch was ist Zeit? Das ist ja das Schoene. “Unsere” Zeit ist nicht einfach objektiv, sie steckt irgendwo tief in uns drin. Sie misst in gefuehlten Kilometern, durstigen Schritten auf Staubstrassen, durchfeierten Naechten, Runden in einem verirrten oder gluecklichen Slalom durch den Wald.
Irgendwo sitzt in uns der gute Meister Hora aus Michael Endes Erzaehlung “Momo”. Es gibt eine Zeit, und die gehoert uns.
Wir sitzen also im Paradies und haben sogar gerade Zeit.
Was fuehrt man fuer Gespraeche im Paradies? Redet man ueberhaupt? Fuehrt man tiefsinnige Gespraeche? Und wenn, ueber was?
In diesem Kreis spricht man ueber den negativen Kapitalismus, Apartheit, Rwanda, die eigene Orientierungslosigkeit, Sinnsuche. Die Blonde ruelpst lange und laut. Die kleine Feine ist bereit an diesem Abend ihr Innerstes nach aussen zu stuelpen.
David und ich schauen uns hie und da an. Wir moegen irgendwie nicht so richtig. Zu reden gibt es nichts. Zu schoen hier. Wir verabschieden uns nach einer Weile, verlieren ein paar Worte ueber das gemuetliche Essen zuvor und gehen zurueck. Das Paradies ist wortlos. Langweilig, vielleicht. Darum wahrscheinlich spricht man, wenn, dann ueber die Hoelle.

March 4, 2010

Von Stalins Reinkarnation, Heiligen, Halbgoettern und Honda Heroes

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 5:29 am

Goetter, Heilige und Helden – kein Tag in Indien vergeht, ohne dass man ihnen begegnet.
Die grossen Tempelanlagen beherbergen einen ziemlich grossen Pantheon. Von Shiva ueber Vishnu und Ganesha bis zu Meenakshi, der fischaeugigen Goettin mit drei Bruesten, – man findet hier alles. Hier segnet nicht der Priester sondern der Tempelelefant, mit seinem Ruessel gibt letzterer seinen Segen gegen eine Silbermuenze. Aus dunklen Nischen schauen uns schwarze von Butter glaenzende Goetzen entgegen. Die Glaeubigen streichen sie mit Butter ein oder entzuenden an ihnen Ghee (butteraehnliche Fluessigkeit). An den manchmal unfoermigen Goetztenleibern kleben bunte duftende Blumen – Jasmin und Ringelblume. So laechelt uns manchmal ein vergnuegter schlanker Shiva im Halblotussitz aus seiner Hoehle zu und manchmal ballt sich uns eine konturlose staemmige Masse aus dem oeligen Dunkel entgegen. Die Luft ist feucht, wenn sich viele Menschen im Tempel bewegen. Die Masse bewegt sich konvulsiv auf das immer enger werdende zentrale Heiligtum zu. Das Gemurmel, die gesungene Formel wird eingehender. Soviele Menschen, dass es unmoeglich ist wieder umzukehren. Langsam immer einen Schritt naeher zur kleinen Oeffnung, zum Shiva Lingam, einem schwarzen phallusartigen Sockel, mit Blumen behaengt, Shivas potentativer Repraesentant. In meinem Bauch zieht es sich zusammen. Es ist feucht und eng. Schweiss tritt aus allen Poren. Ein bisschen Luft … Wir sind aus der Schlange herausgetreten. Ein Seiteneingang auf der Hoehe des Heiligtums erlaubte uns “von aussen” nochmals einen Blick ins Heiligtum zu werfen. Ich kann es noch nicht so richtig, Teil der Menge, der Masse sein. Ich wuenschte mir hier manchmal herausgehoben zu werden. Wie frueher waehrend der Chilbi oder der Fasnacht, als mein Vater mich aus der Menge zog und auf seine Schultern setzte.
Von den Goettern nun zu den Heiligen: Der Unterschied ist mir nicht immer so klar, zumal Goetter genauso in Bild und Figur Verehrung finden wie die Abbildungen der sogenannten Sri Aurobindos, Ammas und Mothers. Amma bewirtschaftet mit ihren taeglichen Umarmungen weltweit und lokal ein ganzes Ashram in der Naehe von Alappuzha. Dort sind wir mit dem Boot vorbeigefahren. Unter Ashram hatte ich mir eine abgelegene Herberge, etwas Klosteraehnliches, vorgestellt. Der riesige rosa Hotelbunker wirkt dank multiplikativer Zellenstruktur leicht berechnend. Amma war damals gerade auf Dienstreise (hier das wunderbare russische Wort komandirovka). Trotzdem standen viele Schwerbepackte Rucksacktouristen am Quai, kommend oder gehend. Mit oder ohne inniger Umarmung der ewig muetterlich Laechelnden.
Jenseits des Mamikomplexes steht die Manifestation einer starken Vaterfigur. Dieser Vater strahlt von jeder Hauswand in jeder Stadt, in jedem Dorf. Er umarmt die Kinder, lacht beherzt, laeuft im schneeweissen Hemd und Lunghi auf den Betrachter zu, umgeben von einer regenbogenfarbenen Aura. Es gibt Leute, die habens. Und er habe sogar den richtigen Namen, so meinen manche. Vaeterchen Stalin, bekannt als M.K. Stalin Deputy Chief Minister von Tamil Nadu, Angehoeriger der staerksten Partei DMK (Dravida Munnetra Kazhagam – Dravidian Progress Federation). Nomen sei Omen. Oder man geht von Wiedergeburt aus: Josef Stalin erfuhr 1953 in Tamil Nadu folglich seine Reinkarnation. Merwuerdigerweise geschah dies am 1. Maerz, also vier Tage vor seinem Todestag. Wie dem auch sei: Heute, 2. Maerz, war jedenfalls in allen Zeitungen von den Geburtstagsfeierlichkeiten des beliebten M.K.S. zu lesen. Offensichtlich waltete er auch an seinem Geburtstag seines Amtes: In den Zeitungen sieht man Photos vom Besuch einer Schule. Ich verstehe tamilische Politik nicht, doch es scheint mir, dass bis auf Schnauz und Vaterkult keine weiteren Parallelen zu seinem frueheren alter Ego bestehen. Reinkarnation auf hoehere Stufe? Ach was, eine Muecke. Stalin ist bloss eine Muecke, eine von mir.
Hinter einer Vaterfigur steht nicht selten eine weitere, in M.K.s Fall ein wohl autoritaerer Politikervater. Und so reihen sich neben den Matrjoschkas die nicht minder reproduktiven Papjoschkas oder Paterjoschkas.
Neben den PolitikerInnenikonen existiert ein Priesterstand. Sie erteilen unter anderem den sterblichen Helden den Schutzsegen, bevor diese in die Strassenschlacht ziehen. Der heutige Held heisst nicht mehr Rama, sondern Honda Hero. Schnell, flink und mit einer goldenen Hupe bestueckt, teilt die Honda taeglich das Stadtgewuehl. Nicht genug, dass vor den ersten Spritzfahrten eine Pruefung abgelegt werden muss, die Maschine muss vor allem auch einen Schutzsegen empfangen.
So liess ein Mann im Bergort Munnar (Staat Kerala) seine Honda segnen. Ein Priester brachte ein Feuer und wandelte einige Male um das Motorrad. Mit hellem Sandelholz und rotem Puder versah er die mechanischen Chakren der Maschine mit Punkten. Der Eigentuemer sass danach flankiert von einem Freund, der die Haende zum Gebet faltete, auf sein Motorrad und erholb den Blick zum Elefantengott Ganesha im Dachfirst des Tempels. Der Priester versah das Motorrad mit einem Blumenkranz und legte unter jedes Rad eine gruene Limone. Nun bat er den Eigentuemer Gas zu geben und ueber die Limonen zu fahren. Der Motor brauste auf, die Limonen spritzten. Und dann fuhr er von dannen, der frisch gebackene Honda Hero.

March 3, 2010

What you want?

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 8:48 pm

In Indien wird man viel gefragt. Der suedindische Fragenkatalog ist leider furchtbar monoton und toleriert keinerlei Abweichungen. Ich kann nicht mehr sagen, wie vielen Schulklassen ich geduldig meinen Namen klar und deutlich genannt und brav meine Nationalitaet preisgegeben habe, bis ich mir schon bloed vorkam. Taeglich diese Fragen an Indienreisende. Auch von Erwachsenen: komischerweise dann ganz sachlich kurz und knapp: “Your name? Country?” und dann kehren sie sich um und gehen. Als ob sie Statistik fuehren wuerden, sagt David. Da gibt es nicht mehr zu verstehen und selber fuehlt man sich auch nicht besser verstanden. Das sind die fluechtigen Beruehrungspunkte in Tempelstaetten, Museen und Parks. Ich frage mich, ob wir vielleicht sowas wie eine Freizeitattraktion sind. Den ganz Kleinen wird schon gesagt, “komm geh hin und sag Hi, what is your name. Geh schon, los, los.” Und die kleinen schuechternen Toddler wackeln mit Windelbeinchen auf die gutmuetigen laechelnden Clowns zu, strecken ihr mit Reifen geschmuecktes Aermchen aus, reichen uns das weiche Haendchen zur Frage … What you want? Zweifelsohne eine der letzteren Fragen, die man in Indien zu hoeren bekommt in der Reihe: What’s your (good) name? Coming which country? Die Frage, danach, was man will, bewegt sich meistens auch in einer gewissen Skala oder einer Ansammlung von (wahren/falschen) Alternativen. In dem Teeplantagenstaedtchen Kumily fragten wir nach moeglichen Touren durch den Nationalpark. Die Dame im Office klappte daraufhin einen Prospekt auf, tippte mit dem Kugelschreiber kurz auf die Bilder und sagte: “This, this and this we have, this one not. What you want?” Eine Glacekarte. Man kann sich nicht ganz zwischen Erdbeer und Vanille entscheiden. Vielleicht kann man etwas kombinieren? “No, no. Fix price.” Grenzen von Kommunikations- und Kombinationsmoeglichkeiten – das wird zur spielerischen Herausforderung. Ein vergnuegter aelterer Wirt fragt uns in einem der typischen “100% Pure Veg-Restaurants”: “Coppee (Coffee), Milktea, Tea?” Wir entscheiden uns unisono fuer “Milktea” und bestaetigen nickend. Er guckt etwas lustig, wackelt mit dem Kopf und verschwindet in der Kueche. Nach fuenf Minuten bekommen wir eine heisse Tasse Milch. Daraufhin schaut uns der Mann ganz pruefend an, im Sinne von “Was sagen sie jetzt?” Nach einem sehr langen heissen Tag mit Wandern, Tempeln anschauen und Busfahren, war ich derart muede, dass ich von zuerst kicherte und dann laut lachte und ich mich kaum beruhigen konnte. Der Mann fing auch zahnlos an zu lachen, wackelte mit dem Kopf und schlurfte gemuetlich zurueck in die Kueche. Die Milch schmeckte sehr gut.
Die Frage “What you want” ist der Ausgangspunkt fuer ein Geschaeft.
Ich moechte eine Limca, eine suesse Limonade in der Flasche, ein Masala Dosa, einen Lime Juice, einen Sappotha Shake, einen neuen Shalwar Kameez, ein Zimmer unter 500 Rupees, ein Reliance USB Modem, zu dem oder jenem Tempel fahren, mich waegen im Restaurant, Yoga machen, einen Liter Wasser, in die Natur raus, meditieren, Martini Dry, auf die naechstbeste Toilette, das Ramayana lesen, einen Zug nach irgendwo.
Hinter der merkantilen Frage laechelt es mir hie und da ganz unverbluemt entegegen “Was willst du hier eigentlich?” Jeden Tag ein vielbevoelkerter Film, quasi ab Breitband. Er spult sich vor meinem Auge ab und ich soll da irgendwo drin mitspielen. Staubiger Landschaftsfilm in toenernen Farben im Busfenster, hingegen farbenstarke Momentaufnahmen mit Tiefe auf Stadtspaziergaengen ohne Ziel. Fokus auf die Hand der Frau, die den Jasmin zu langen Haarschlangen bindet, auf den braunen faltigen Ruecken einer pilgernden Greisin, auf das heilige Tempelinnere, den Shiva Lingam, auf das dritte rote Auge auf der Stirn oberhalb eines eindringlichen Blicks. Blick auf Oberflaechen: Wandstrukturen, Saris aus Seide und Baumwolle, goldene Borduren, meterlange schwarze Zoepfe, rissige Fuesse, weisse Kraegen, pinkfarbene Busse, ein grosses mit Gold verhaengtes Schmuckgeschaeft. Wir wollen den Fuss reinsetzten. Wo sind wir da drin? Mitten drin in der pilgernden Menge, unversehens mit einem Buttertoepfchen in der Hand, das mit der heiligen Flamme vor dem Elephantengott Ganesha angezuendet und als Gabe dargebracht wird. What you want? Was suchst du hier? Ich suche keine Erleuchtung, keine Weisheit, keine Verbesserung, nein – nichts dergleichen. Wir gehen hier nur einmal hindurch und gruessen dabei vielleicht auch den Goetzen. Wir sind drin und doch draussen. Es gibt wohl kein zweites Mal hier, nicht fuer uns. Gewisse Wege geht man einfach nur einmal. Ein bisschen reisen wir unseren Vorstellungen hinterher, dann kommen wir an, verweilen, leben den wahren Moment das einzige Koernchen, das wir als heilig schaetzen koennen, und reisen weiter. Eine Masche ist somit gestrickt, und es folgt die naechste. Wir stehen vor der dichten beinahe dampfenden Menge, vor unerstickbarem Strassenlaerm… What you want? Wir wollen hindurch. Wir wollen das unsichtbar gestrickte Kleid. Wir wollen sowas wie im Maerchen: des Koenigs unsichtbare Kleider.