July 5, 2010

Chinesische Sommerfrischler

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 12:35 pm

Seit zwei Tagen sind wir erstmals in sechs Wochen so richtig auf dem Land. Sechs Wochen lang reisten wir meist durch grosse unbekannte chinesische Staedte. China, der Name ruft in meinem Bildergedaechtnis zwar stets dasselbe alte Bild hervor: Ein gruener Park mit roten Pagodengebaeuden und weissgeschminkte Menschen mit langen Aermeln. Es ist das Chinabild, das ich von irgendwelchen Tapetenmustern kenne. Wahrscheinlich Schloss Versailles, der chinesische Salon. In Wirklichkeit haben wir sehr viele moderne Grossstaedte gesehen. Spiegelnde Hochhaeuser, breite Strassen und endlose Shoppingmalls. Das Land widerfuhr uns nur waehrend Ueberlandfahrten im Bus und Zug. Auf diesen Fahrten sah man vor allem Maisfelder von Grossbetrieben. Der Mais hoert nirgends auf. Es handelt sich dabei um Tierfuttermais. Im Restaurant ist ein Teller Maissalad sogar relativ teuer. Nun sind wir endlich einmal hinter diese Maisfelder gefahren. Mit einem kleinen Bus sind wir von der naechstgroesseren Stadt Mingshui in das kleine Dorf Zhujiayu gefahren, das am Fusse eines felsigen Huegels liegt. Hier hoert die Strasse auf. Der bukolische Ort ist umgeben von einer neugebauten Ringmauer nach mittelalterlichem Stil. Als Besucher bezahlt man einen Eintritt von etwa 2 Franken. Dieses Dorf duerfte bis in die 70er oder vielleicht etwas spaeter ganz gewoehnlich in Stand gewesen sein. Mittlerweile ist ein Grossteil der Haeuser eingestuerzt oder unbewohnt. Viele Haeuser sind aus Lehm, manche auch gemauert. Das Dorf war einst vor Jahrhunderten ein Staedtchen waehrend der Ming und Qing Dynastie. Es wohnen wenige und vor allem aeltere Leute hier im Ort. Rund um die Haeusersiedlungen liegen noch einige Terrassenfelder am Hang, doch hier gibt es keine Landwirtschaft im groesseren Umfang. Die in den 40er Jahren erbaute Schule wird als Museum benutzt, wo ein paar Alltagsgegenstaende ausgestellt werden. Die Schule besteht aus mehreren Gebaueden mit dazwischenliegenden Innenhoefen. In der Naehe steht eine grosse Wand mit dem langsam abgewaschenen Portraet Maos, wovon die polierten Knoepfe seiner blauen Joppe am besten noch zu sehen sind. Ein so halbzerfallenes Doerfchen verstroemt natuerlich ganz besonders romantischen Charakter. Tatsaechlich ist dieser Ort tagsueber ein sehr beliebtes Reiseziel fuer die chinesische Mittelklasse, die mit Privatauto herfahren koennen. Die aelteren Frauen bringen am Vormittag allmaehlich ihre Eier, Omelettes, Getraenke und Souvenirs in Position und warten auf Besucher. Die wenigen Restaurants, die es gibt, sind am Abend voellig leer. Als wir ankamen verspiesen wir ganz einsam einen Teller Pfefferminze im Bierteig und Omelettes sowie Tomatensuppe. Heute Mittag hingegen war der Hof unserer Herberge voller Leute und es wurde alles moegliche aufgetragen. Der Tisch der Gaeste sah nach dem Essen aus wie nach einem mittelalterlichen Gelage im reichen Ueberfluss. Dunkle Limousinen rauschen hier auch an und schicke Damen und Herren kommen hier auch auf Wochenend- oder Ferienvisite. Ferien auf dem Lande. Das sei heutzutage gerade sehr angesagt bei denen, die sich etwas mehr leisten koennen, meinte ein chinesischer Geschaeftsmann kuerzlich zu uns. Die Leute hier im Ort freuts jedenfalls, denn das bedeutet ihre Lebensgrundlage. Die Haehne werden, bis zum Tag, an dem sie bestellt, gewogen und geschlachtet werden, in leider sehr engen Kaefigen gemaestet. Alles wird bereitgemacht fuer die Touristen auf dem Lande. Der Hahn wird frisch geschlachtet, und der Gast darf in die Kueche und Zutaten auswaehlen. Tagsueber laeuft man zur neuerbauten Betonpagoda. Dort oben erwartet einen unter spiritueller Musik eine Art moderner Tempel, der von einem aelteren Herrn und einem juengeren in traditionellem Kostuem bedient wird. Man bezahlt 2 Yuan, um auf die Pagoda zu steigen, die Aussicht zu sehen und die Taogoetter aus zu buntem Porzellan anzuschauen. Gegen 100 Yuan (ca. 18CHF) kann man an einem taoistischen Ritual teilnehmen. Ein junges Paerchen liess sich dazu hinreissen mehrmals den Stoessel gegen eine grosse Glocke zu schlagen, waehrend der Mann im Kostuem dazu etwas sehr laut rezitierte. Der junge Mann rieb danach eifrig an den Henkeln einer Kupferpfanne, damit ein Geraeusch entstand, Raeucherstaebchen wurden angezuendet und das junge Paerchen wirkte in ihrer Taetigkeit irgendwie sehr zeremonielos und ungeschickt. In pastellfarbenen Coddle-T-Shirts (Nachahmung von Lacoste) und Louis-Vuitton-Verschnitten wirken sie fast unecht in der Landschaft, oder wirkt die Landschaft unecht? Das Dorfleben und alte Traditionen sind wieder In. Halb vergessen wirkt dieser Ort und halb im Aufbruch zu einem populaeren Naherholungsgebiet.

Ueber Chinas Schachbrett

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 12:19 pm

Wo lai Zhungguo wanr. Ich komme nach China reisen. Oder: Ich komme nach China spielen. Ob man den Spielstein von Feld zu Feld schiebt oder ob man fremde Laender besucht – in China benutzt man ein und dasselbe Verb fuer diese Taetigkeiten – “wan”. Dabei sind Chinesen nicht wirklich die grossen Welteroberer und leidenschaftlichen Reisenden. Dafür sind sie absolut spielsuechtig. An jeder Ecke wird gespielt und gepokert. Und das von morgens frueh bis spaet in die Nacht. Eines meiner Lieblingsszenarios zeigt zwei Maenner in beigen Bundfaltenhosen und weissen ausgetragenen Unterhemden (was hier alle Maenner ueber 45 tragen) beim Schach mit Zigarrettenkippen im Mundwinkel und einem alten fetten Mops im Schoss.
David scheint gerade zum Spielen nach China gekommen zu sein. Ueberall lauert er den alten Maennern beim Xiang qi (Chinaschach) auf und wird auch nicht selten aufgefordert mitzuspielen. Schweigsam werden eine Weile lang die Positionen ausgefochten, bis sich eine grosse Traube Maenner ums Brett ansammelt und die Kommentare und Ratschlaege immer lauter werden. Bei hitzigen Spielen ist das Brett voller Zeigefinger. Die handballengrossen Steine knallen aufeinander, wenn eine Farbe der anderen unterliegt. Die Spiele enden immer lachend, mit vielen Lachfaeltchen, viel und schnellem Wortfluss und vielen “Tinbudong, Tinbudong, Tinbudong” (Tinbudong: Ich verstehe nicht.) Irgendwann streifen wir dann weiter dem schmalen linearen Gaesschen entlang, durch den Hutong, die chinesische Altstadt. Streng ausgerichtet nach den vier Himmelsrichtungen bilden diese Staedte einen groesseren Plan eines Schachbrettes. Auf dem Pekinger Bazaar haben wir eine Schatulle mit Xiang qi Steinen und Spielfeld gefunden und reisen seither mit Xiang qi durchs Land. Dieses kleine Zaubermittel verkuerzt die langen Reisezeiten und ueberbrueckt alle Tinbudongs. Beim Spielen ist Sprache gar nicht so noetig. Wir stossen hier auf sehr viel Offenheit gegenueber uns Reisenden. Das hat uns sehr erstaunt, da wir oftmals das Gegenteil gehoert oder vermutet hatten.
Englisch sprechen sehr, sehr wenige Leute. Erstaunlicherweise wurden wir aber oft von kleinen Maedchen in Englisch angesprochen, ob wir Hilfe brauchen. So hatten wir einmal im Nudelladen eine kleine Uebersetzerin. Ansonsten jonglierten wir mit den Silben unseres Reisefuehrervokabulars herum und wiederholten manchmal tausendfach, bis wir dann mit den Haenden zeichneten. Mit der Zeit lernten wir ein paar Worte, und irgendwann stellten wir fest, dass wir wohl laenger in China bleiben wuerden, da wir nicht weiter nach Russland reisen konnten (debile Visabestimmungen). Dann, so kann man sagen, wurde das Spiel etwas ernster, und ich lernte zwei Wochen ganz grundlegendes Chinesisch. Nach zwei Wochen Peking packten wir unser Schach und mein Chinesisch Kauderwelsch in kleine Rucksaecke und fuhren in den chinesischen Dongbei (Nordosten). Eine neue Spielrunde. Mit nun zwei gesammelten Spielbonuspunkten. Nun wurde Einkaufen lustiger, man konnte endlich mal verhandeln und sonst mal etwas schwatzen (wenn auch wirklich sehr rudimentaer). Mit einer neuen Sprache hat man das Privileg eines Kleinkindes, so scheint mir. Das “alles nochmals von vorne” hat auch wirklich etwas Erfrischendes ganz zu Beginn. Herumstammeln, in der Not Worte zusammenflicken – alles ganz normal. Hauptsache man kann sich irgendwie ausdruecken (Gestensprache ist hier auch nicht ganz gleich wie bei uns). Ich muss zugeben, die Leute beweisen hier meistens auch eine lange Geduld.
Die Reise in den Nordosten war vor allem Dank Gespraechen und Spiel mit LEuten sehr spannend. Die Landschaften fand ich auf meiste Strecken eher bedrueckend. Seit wir in China angekommen sind, haben wir keinen natuerlichen Wald gesehen. Natuerlich ist das Land weit und gross, und wir haben zweifellos nur einen Ausschnitt gesehen. In diesem Ausschnitt jedoch standen Baeume streng Spalier oder in lichten genau bemessenen Anordnungen. Kein Saeugetier findet dort seinen Platz. Jeder Flecken Erde ist Nutzflaeche. Linear abgesteckt und bebaut mit Jungwald, Mais oder Wohnbloecken. Der ewig weisse Himmel, durch den heiss und grell die Sonne drueckte, machte die Stimmung gaenzlich depressiv. Ueber den Staedten wie Qingdao, der Kuestenstadt, hing ein dicker weisser Nebel, angeblich Smog, der Landschaft und Meer verschluckte. Diese Welt war grell ausgeleuchtet und schattenlos. Zweidimensional. Flaeche reihte sich an Flaeche. Das beste war, sich waehrend Zugfahrten in ein Spiel oder Buch zu vertiefen und in den Staedten die kleinen schattigen Winkel zu suchen, die Jiaozi (Dumplings) und Nudelbuden, die Spezereienlaeden und Teestuben. Nach Indien und Nepal ist China ein sehr lineares Spielbrett, eher Formenstreng und schlicht. Unsere Reiseroute wirkte formaler und strenger, unspektakulaerer. Die Tempel erschienen mit unglaublich leer und auch der beruehmte Gugong, die verbotene Stadt, war riesig aber irgendwie so hohl. Nach dem Barock Indiens muss man sich direkt an diese per Kompass ausgerichtete Linearwelt gewoehnen. China ist ein pragmatisches Spiel, soviel wurde uns klar. Hier faehrst du als Tourist von A nach B mit Bus Nummer C zur Sehenswuerdigkeit Z. Selbstsuche und Abenteuer, das liegt hier einfach nicht so in der Luft. China ist ein erstaunlich exakt organisiertes und weit veraesteltes System, das sich taeglich so scheint es mehr und mehr ausweitet. Strassen- und Schienennetz funktionieren einwandfrei, riesige Bahnhoefe werden gebaut, Siedlungen entstehen in Null Komma Nichts, Tausende von Arbeitsplaetzen werden wohl woechentlich geschaffen, jede Stadt zeigt stolz eine grosse Baustelle vor der bisherigen Skyline. Nichts wird dem Zufall ueberlassen. Wachstum, Reichtum, Groesse. In den Loechern des Netzes, dort befindet sich wohl noch das Abenteuer. Tourismusattraktionen wie Nationalparks gehoeren unabtrennbar zu diesem grandiosen System. Unser Tag in Chang Bai Shan (Nationalpark in Provinz Jilin) haette nicht schlechter verlaufen koennen, waehrend jeder einzelne chinesische Besucher ueber das Erlebnis frohlockte. Morgens um sieben Uhr standen wir bei der Kasse bereit, um bald eingelassen zu werden. Bis zur Oeffnungszeit um halb acht hatten sich mehrere hundert Besucher angesammelt, und wir sahen uns von einer lauten Menge mit Megaphonen bestueckter Guides umgeben und befuerchteten eher Anstrengung. Der Eintrittspreis war hoch, und eine Armada von Passagierbussen verhiess uns nicht gerade Abenteuer. 15 Minuten lang fuhren im Minutentakt gefuellte Busse entlang perfekter Hauptstrassen durch einen Birkenwald zu einer Mittlerstation. Von dort konnte man zu Fuss weiter auf einem Holzsteg ins Tal spazieren. Die dichte Beschilderung mit stupiden Warnungen suggerierten einen voellig hilflosen Besucher, der noch nie einen Wald betreten hat. Wir wurden gewarnt: Verirrt euch nicht. Doch – es gab ja nur einen Weg. Am Rande des Weges ueberall Aufpasser und Platzanweiser. Langsam wurden wir unwirsch. Das war zuviel Kontrolle. Und als wir endlich den Anstieg zum Kratersee erreicht hatten, hielt uns ein Mann mit Funkgeraet an. Der Weg sei seit zwei Jahren verschuettet und gefaehrlich. Man muesse ein Ticket kaufen und mit dem Jeep hochfahren. Unnoetig zu erwaehnen, dass der ganze Poebel dort anstand und tatsaechlich zusaetzlich noch ein Ticket kaufte, um in der perfekten Trekkingausruestung hochgefahren zu werden. Wir sahen uns umgeben von Verrueckten. “Kann man nicht zu Fuss hoch?” – “Nein, natuerlich nicht. Ausgeschlossen.” Eine junge sympathische Studentin meinte: “Es ist wirklich extrem teuer, aber es lohnt sich so!” Der kontinuierliche Fluss schwarzer Jeeps, jeder etwa 50 Franken fassend, hoerte nicht auf. Die Strenge, mit der Leute per Megaphon in Reihen eingegliedert wurden, kehrte uns beinahe den Magen um. Wir verliessen das Spielfeld fluchtartig. Der Ausflug in die Natur bot uns den Anblick fremdgesteuerter Massen und ausgestopfter Hirsche. Von oekologischem Park und Natur kann nicht die Rede sein. Das einzige Tier, das dort zu finden ist, ist ein gigantischer Geldesel. Unsere chinesischen Kolleginnen und Kollegen der Forschungsstation Landschaftsoekologie bedauerten im Nachhinein, uns nicht den “geheimen” Weg – durch das Netz – zum Bergsee gezeigt zu haben. Wir atmeten auf, dass sie wenigstens einen eigenen Weg hoch gefunden hatten.
Das Erlebnis machte uns wohl auch ein bisschen zu Systemkritikern. Wir haben oft hitzig untereinander oder mit anderen Leuten ueber dieses neue grossorganisierte, unternehmerische China hinter der langsam abschuessigen molligen Maomaske diskutiert. Wir sind nicht selten hin- und hergerissen zwischen Bewunderung gegenueber dem rasanten Fortschritt und Missfallen gegenueber einer forschen und ruecksichtslosen Vorgehensweise angesichts Aussichten auf Profit. Alles scheint jedoch perfekt geplant zu sein, viel besser als zu Zeiten Maos, obwohl das nie zur Debatte steht. Die heutigen Fünfjahresplaene bescheren keine grossen Hungersnoete mehr (wie nach dem “Grossen Sprung nach vorn”). Sie treiben die Bauern in die Stadt, die Landwirtschaft wird auf staatliche Grossbetriebe verteilt. Maisfelder meilenlang. Monokultur heisst die neue Kultur.
Ich genoss die Aussichten einfach nicht so sehr. Wie gut war es drum im Kleinen, wo die Menschen noch spielen. Um laeppische 2 Yuan, weil es so ein bisschen spannender ist.