March 27, 2010

Smalltalk im Paradies

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:03 am

Wir fuhren nach Kodaikanal. Es war eine Busfahrt wie manche. Der touristische Bergort zeigte sich zunaechst von seiner anstrengenden Seite. Wie immer, wenn man muede und krank ist. Wir fuhren aus der Stadt hinaus auf eine Farm. Eine Aussteigerfarm, die Karunafarm.

Karuna Farm, Kodaikanal

Ein paar Tage aussteigen: aus der Stadt in die Natur, aus dem Laerm in die Stille, aus der Reise mit all den Besichtigungen in eine scheinbare Sesshaftigkeit mit einem stagnierenden Bild. Das Bild: Eine kleine Huette auf einem Huegel und eine Aussicht auf einen dicht bewachsenen Hang, der sich gegen die heissen Ebenen Tamil Nadus hinunterzieht. Hibiskusblueten, Kaffeestraeucher, Zitronen. Wir sitzen vor dem Huettchen, spielen Schach. Zu reden gibt es wenig. Es ist alles so klar. Keine Langweile, kein Sehnen. Abundzu kochen wir Zuckerbananen. Lesen am schattigen Bach. Auf die Ebenen hinunterschauen von einem grossen Felsen aus.
Es gibt verschiedene Leute auf der Farm. Alle in ihren verstreuten Huettchen. Abends trifft man sich, man isst, redet.
Nevil gehoert die Farm, er leitet sie als Besucherort. Einen Tag nach unserer Ankunft wandert er im weissen Lunghi und mit Wanderstab den Huegel hoch, richtung Bushaltestelle im nächsten kleinen Weiler. Er faehrt zur Kumbh Mela in Nordindien.
Die Farm ist nun seinen nepalesischen Gehilfen ueberlassen. Manchmal ruft er sie abends an.
Eine richtige Gemeinschaft trifft man auf der Farm allerdings nicht an. Zwar verleben manche Leute tatsaechlich eine laengere Zeit hier, doch die meisten reisen bald weiter. Ein englisches Paar hingegen lebt mehrere Monate im Jahr dort und ist dabei, ein sehr schoenes Yogahaus aus Lehm, Kokosfaser und Ziegeln zu bauen. Ich haette gerne mitgeholfen die paar Tage. Die Idee gefiel mir und v.a. die Umsetzung. In der Woche war ich aber zu krank und war mit der taeglichen Huegelwanderung am Hang bereits genug beschaeftigt.
Die Farm zieht ganz verschiedene Leute an. Im Kern ist die temporaere Zweckgemeinschaft stark links alternativ. In diesem Kern der Karunafarm sah ich vor allem die Vision des wahren, richtigen Lebens. Das Sharing dieser Vision basiert auf einer Art Rhythmus. Das heisst, wenn man mit diesem mitgeht, gehoert man zur Community.
Eines Abends sassen wir vor dem Haeuschen, das ein nordindisches Paerchen bewohnte. Der Mond stand senkrecht ueber uns und dem Lagerfeuer, wo wir eben gemuetlich Kartoffeln und Bananen mit Schokolade gebraten hatten. Jetzt ist es ein Moment lang still im Kreis der Unbekannten. Smalltalk plaetschert: “Indian food is so unhealthy”, “oh that poppy is sooooo cute”, “how long does it take to get to the bus stand on foot?”, “oh you know, i hate shopping, but i have to, because these chips are so fucking tasty …”, “oh fuck, these bananas were sooooo good” – “oh yeah man, they were really fucking good”. Im Hintergrund laeuft Thievery Cooporation. Cool sound. Auf einem iPhone wird nun andere Musik abgespielt, HipHop bis zu Sentimental. Ein blondes Maedchen, das sich tagsueber eher still zeigte, sitzt mit langem aufgeloesten Haar im Schneidersitz und beginnt zur Hintergrundmusik zu erzaehlen: “I ran away from home, when I was six”, sagt sie und laechelt traurig. “And also now, I don’t really know, if I will be able to go back home to South Africa. It is still a nazi system there.” Ihr Nachbar nickt langsam und sagt: “How is it in South Africa? You still feel the remainings of the former Apartheid system?”-“Oh, yeeeeah, definitely. It is so …”. Am Ende wird er ihr sagen, dass er noch nie in Afrika war, aber als erstes nach Rwanda reisen moechte. Die Musik hat laengst schon eine Wende genommen: Einer klimpert auf einer verstimmten Gitarre Bob Marley und einige singen dazu.
“Money makes mankind evil.”- “The problems are not about things. Money cannot be evil, it is the people.” Ein Joint macht die Runde. Jemand beginnt auf etwas zu trommeln, jemand spielt Mundharmonika, die Suedafrikanerin stimmt mit geschlossenen Augen einen heulenden irgendwie altgaelischen Gesang an (aehnlich wie die Saengerin von den Cranberries).
Der Typ mit der Gitarre fragt David: “How long have you guys been here?” – “Oh, quite a time, but not too long. One week. After tomorrow we are going to leave”. – “Quite a time, huh? You call that quite a time – one week,” meint er, weil er selber hier Monate verbringt.
Als waere uns das Paradies verwehrt? Dabei sind wir doch hier, jetzt gerade. Wenn auch nur eine Woche. Doch was ist Zeit? Das ist ja das Schoene. “Unsere” Zeit ist nicht einfach objektiv, sie steckt irgendwo tief in uns drin. Sie misst in gefuehlten Kilometern, durstigen Schritten auf Staubstrassen, durchfeierten Naechten, Runden in einem verirrten oder gluecklichen Slalom durch den Wald.
Irgendwo sitzt in uns der gute Meister Hora aus Michael Endes Erzaehlung “Momo”. Es gibt eine Zeit, und die gehoert uns.
Wir sitzen also im Paradies und haben sogar gerade Zeit.
Was fuehrt man fuer Gespraeche im Paradies? Redet man ueberhaupt? Fuehrt man tiefsinnige Gespraeche? Und wenn, ueber was?
In diesem Kreis spricht man ueber den negativen Kapitalismus, Apartheit, Rwanda, die eigene Orientierungslosigkeit, Sinnsuche. Die Blonde ruelpst lange und laut. Die kleine Feine ist bereit an diesem Abend ihr Innerstes nach aussen zu stuelpen.
David und ich schauen uns hie und da an. Wir moegen irgendwie nicht so richtig. Zu reden gibt es nichts. Zu schoen hier. Wir verabschieden uns nach einer Weile, verlieren ein paar Worte ueber das gemuetliche Essen zuvor und gehen zurueck. Das Paradies ist wortlos. Langweilig, vielleicht. Darum wahrscheinlich spricht man, wenn, dann ueber die Hoelle.

March 4, 2010

Von Stalins Reinkarnation, Heiligen, Halbgoettern und Honda Heroes

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 5:29 am

Goetter, Heilige und Helden – kein Tag in Indien vergeht, ohne dass man ihnen begegnet.
Die grossen Tempelanlagen beherbergen einen ziemlich grossen Pantheon. Von Shiva ueber Vishnu und Ganesha bis zu Meenakshi, der fischaeugigen Goettin mit drei Bruesten, – man findet hier alles. Hier segnet nicht der Priester sondern der Tempelelefant, mit seinem Ruessel gibt letzterer seinen Segen gegen eine Silbermuenze. Aus dunklen Nischen schauen uns schwarze von Butter glaenzende Goetzen entgegen. Die Glaeubigen streichen sie mit Butter ein oder entzuenden an ihnen Ghee (butteraehnliche Fluessigkeit). An den manchmal unfoermigen Goetztenleibern kleben bunte duftende Blumen – Jasmin und Ringelblume. So laechelt uns manchmal ein vergnuegter schlanker Shiva im Halblotussitz aus seiner Hoehle zu und manchmal ballt sich uns eine konturlose staemmige Masse aus dem oeligen Dunkel entgegen. Die Luft ist feucht, wenn sich viele Menschen im Tempel bewegen. Die Masse bewegt sich konvulsiv auf das immer enger werdende zentrale Heiligtum zu. Das Gemurmel, die gesungene Formel wird eingehender. Soviele Menschen, dass es unmoeglich ist wieder umzukehren. Langsam immer einen Schritt naeher zur kleinen Oeffnung, zum Shiva Lingam, einem schwarzen phallusartigen Sockel, mit Blumen behaengt, Shivas potentativer Repraesentant. In meinem Bauch zieht es sich zusammen. Es ist feucht und eng. Schweiss tritt aus allen Poren. Ein bisschen Luft … Wir sind aus der Schlange herausgetreten. Ein Seiteneingang auf der Hoehe des Heiligtums erlaubte uns “von aussen” nochmals einen Blick ins Heiligtum zu werfen. Ich kann es noch nicht so richtig, Teil der Menge, der Masse sein. Ich wuenschte mir hier manchmal herausgehoben zu werden. Wie frueher waehrend der Chilbi oder der Fasnacht, als mein Vater mich aus der Menge zog und auf seine Schultern setzte.
Von den Goettern nun zu den Heiligen: Der Unterschied ist mir nicht immer so klar, zumal Goetter genauso in Bild und Figur Verehrung finden wie die Abbildungen der sogenannten Sri Aurobindos, Ammas und Mothers. Amma bewirtschaftet mit ihren taeglichen Umarmungen weltweit und lokal ein ganzes Ashram in der Naehe von Alappuzha. Dort sind wir mit dem Boot vorbeigefahren. Unter Ashram hatte ich mir eine abgelegene Herberge, etwas Klosteraehnliches, vorgestellt. Der riesige rosa Hotelbunker wirkt dank multiplikativer Zellenstruktur leicht berechnend. Amma war damals gerade auf Dienstreise (hier das wunderbare russische Wort komandirovka). Trotzdem standen viele Schwerbepackte Rucksacktouristen am Quai, kommend oder gehend. Mit oder ohne inniger Umarmung der ewig muetterlich Laechelnden.
Jenseits des Mamikomplexes steht die Manifestation einer starken Vaterfigur. Dieser Vater strahlt von jeder Hauswand in jeder Stadt, in jedem Dorf. Er umarmt die Kinder, lacht beherzt, laeuft im schneeweissen Hemd und Lunghi auf den Betrachter zu, umgeben von einer regenbogenfarbenen Aura. Es gibt Leute, die habens. Und er habe sogar den richtigen Namen, so meinen manche. Vaeterchen Stalin, bekannt als M.K. Stalin Deputy Chief Minister von Tamil Nadu, Angehoeriger der staerksten Partei DMK (Dravida Munnetra Kazhagam – Dravidian Progress Federation). Nomen sei Omen. Oder man geht von Wiedergeburt aus: Josef Stalin erfuhr 1953 in Tamil Nadu folglich seine Reinkarnation. Merwuerdigerweise geschah dies am 1. Maerz, also vier Tage vor seinem Todestag. Wie dem auch sei: Heute, 2. Maerz, war jedenfalls in allen Zeitungen von den Geburtstagsfeierlichkeiten des beliebten M.K.S. zu lesen. Offensichtlich waltete er auch an seinem Geburtstag seines Amtes: In den Zeitungen sieht man Photos vom Besuch einer Schule. Ich verstehe tamilische Politik nicht, doch es scheint mir, dass bis auf Schnauz und Vaterkult keine weiteren Parallelen zu seinem frueheren alter Ego bestehen. Reinkarnation auf hoehere Stufe? Ach was, eine Muecke. Stalin ist bloss eine Muecke, eine von mir.
Hinter einer Vaterfigur steht nicht selten eine weitere, in M.K.s Fall ein wohl autoritaerer Politikervater. Und so reihen sich neben den Matrjoschkas die nicht minder reproduktiven Papjoschkas oder Paterjoschkas.
Neben den PolitikerInnenikonen existiert ein Priesterstand. Sie erteilen unter anderem den sterblichen Helden den Schutzsegen, bevor diese in die Strassenschlacht ziehen. Der heutige Held heisst nicht mehr Rama, sondern Honda Hero. Schnell, flink und mit einer goldenen Hupe bestueckt, teilt die Honda taeglich das Stadtgewuehl. Nicht genug, dass vor den ersten Spritzfahrten eine Pruefung abgelegt werden muss, die Maschine muss vor allem auch einen Schutzsegen empfangen.
So liess ein Mann im Bergort Munnar (Staat Kerala) seine Honda segnen. Ein Priester brachte ein Feuer und wandelte einige Male um das Motorrad. Mit hellem Sandelholz und rotem Puder versah er die mechanischen Chakren der Maschine mit Punkten. Der Eigentuemer sass danach flankiert von einem Freund, der die Haende zum Gebet faltete, auf sein Motorrad und erholb den Blick zum Elefantengott Ganesha im Dachfirst des Tempels. Der Priester versah das Motorrad mit einem Blumenkranz und legte unter jedes Rad eine gruene Limone. Nun bat er den Eigentuemer Gas zu geben und ueber die Limonen zu fahren. Der Motor brauste auf, die Limonen spritzten. Und dann fuhr er von dannen, der frisch gebackene Honda Hero.

March 3, 2010

What you want?

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 8:48 pm

In Indien wird man viel gefragt. Der suedindische Fragenkatalog ist leider furchtbar monoton und toleriert keinerlei Abweichungen. Ich kann nicht mehr sagen, wie vielen Schulklassen ich geduldig meinen Namen klar und deutlich genannt und brav meine Nationalitaet preisgegeben habe, bis ich mir schon bloed vorkam. Taeglich diese Fragen an Indienreisende. Auch von Erwachsenen: komischerweise dann ganz sachlich kurz und knapp: “Your name? Country?” und dann kehren sie sich um und gehen. Als ob sie Statistik fuehren wuerden, sagt David. Da gibt es nicht mehr zu verstehen und selber fuehlt man sich auch nicht besser verstanden. Das sind die fluechtigen Beruehrungspunkte in Tempelstaetten, Museen und Parks. Ich frage mich, ob wir vielleicht sowas wie eine Freizeitattraktion sind. Den ganz Kleinen wird schon gesagt, “komm geh hin und sag Hi, what is your name. Geh schon, los, los.” Und die kleinen schuechternen Toddler wackeln mit Windelbeinchen auf die gutmuetigen laechelnden Clowns zu, strecken ihr mit Reifen geschmuecktes Aermchen aus, reichen uns das weiche Haendchen zur Frage … What you want? Zweifelsohne eine der letzteren Fragen, die man in Indien zu hoeren bekommt in der Reihe: What’s your (good) name? Coming which country? Die Frage, danach, was man will, bewegt sich meistens auch in einer gewissen Skala oder einer Ansammlung von (wahren/falschen) Alternativen. In dem Teeplantagenstaedtchen Kumily fragten wir nach moeglichen Touren durch den Nationalpark. Die Dame im Office klappte daraufhin einen Prospekt auf, tippte mit dem Kugelschreiber kurz auf die Bilder und sagte: “This, this and this we have, this one not. What you want?” Eine Glacekarte. Man kann sich nicht ganz zwischen Erdbeer und Vanille entscheiden. Vielleicht kann man etwas kombinieren? “No, no. Fix price.” Grenzen von Kommunikations- und Kombinationsmoeglichkeiten – das wird zur spielerischen Herausforderung. Ein vergnuegter aelterer Wirt fragt uns in einem der typischen “100% Pure Veg-Restaurants”: “Coppee (Coffee), Milktea, Tea?” Wir entscheiden uns unisono fuer “Milktea” und bestaetigen nickend. Er guckt etwas lustig, wackelt mit dem Kopf und verschwindet in der Kueche. Nach fuenf Minuten bekommen wir eine heisse Tasse Milch. Daraufhin schaut uns der Mann ganz pruefend an, im Sinne von “Was sagen sie jetzt?” Nach einem sehr langen heissen Tag mit Wandern, Tempeln anschauen und Busfahren, war ich derart muede, dass ich von zuerst kicherte und dann laut lachte und ich mich kaum beruhigen konnte. Der Mann fing auch zahnlos an zu lachen, wackelte mit dem Kopf und schlurfte gemuetlich zurueck in die Kueche. Die Milch schmeckte sehr gut.
Die Frage “What you want” ist der Ausgangspunkt fuer ein Geschaeft.
Ich moechte eine Limca, eine suesse Limonade in der Flasche, ein Masala Dosa, einen Lime Juice, einen Sappotha Shake, einen neuen Shalwar Kameez, ein Zimmer unter 500 Rupees, ein Reliance USB Modem, zu dem oder jenem Tempel fahren, mich waegen im Restaurant, Yoga machen, einen Liter Wasser, in die Natur raus, meditieren, Martini Dry, auf die naechstbeste Toilette, das Ramayana lesen, einen Zug nach irgendwo.
Hinter der merkantilen Frage laechelt es mir hie und da ganz unverbluemt entegegen “Was willst du hier eigentlich?” Jeden Tag ein vielbevoelkerter Film, quasi ab Breitband. Er spult sich vor meinem Auge ab und ich soll da irgendwo drin mitspielen. Staubiger Landschaftsfilm in toenernen Farben im Busfenster, hingegen farbenstarke Momentaufnahmen mit Tiefe auf Stadtspaziergaengen ohne Ziel. Fokus auf die Hand der Frau, die den Jasmin zu langen Haarschlangen bindet, auf den braunen faltigen Ruecken einer pilgernden Greisin, auf das heilige Tempelinnere, den Shiva Lingam, auf das dritte rote Auge auf der Stirn oberhalb eines eindringlichen Blicks. Blick auf Oberflaechen: Wandstrukturen, Saris aus Seide und Baumwolle, goldene Borduren, meterlange schwarze Zoepfe, rissige Fuesse, weisse Kraegen, pinkfarbene Busse, ein grosses mit Gold verhaengtes Schmuckgeschaeft. Wir wollen den Fuss reinsetzten. Wo sind wir da drin? Mitten drin in der pilgernden Menge, unversehens mit einem Buttertoepfchen in der Hand, das mit der heiligen Flamme vor dem Elephantengott Ganesha angezuendet und als Gabe dargebracht wird. What you want? Was suchst du hier? Ich suche keine Erleuchtung, keine Weisheit, keine Verbesserung, nein – nichts dergleichen. Wir gehen hier nur einmal hindurch und gruessen dabei vielleicht auch den Goetzen. Wir sind drin und doch draussen. Es gibt wohl kein zweites Mal hier, nicht fuer uns. Gewisse Wege geht man einfach nur einmal. Ein bisschen reisen wir unseren Vorstellungen hinterher, dann kommen wir an, verweilen, leben den wahren Moment das einzige Koernchen, das wir als heilig schaetzen koennen, und reisen weiter. Eine Masche ist somit gestrickt, und es folgt die naechste. Wir stehen vor der dichten beinahe dampfenden Menge, vor unerstickbarem Strassenlaerm… What you want? Wir wollen hindurch. Wir wollen das unsichtbar gestrickte Kleid. Wir wollen sowas wie im Maerchen: des Koenigs unsichtbare Kleider.

February 19, 2010

Train Kochi-Kollam on Platform 4 (maybe)

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 6:18 pm

Wir standen frueh auf, um den Zug von Ernakulam nach Kollam zu erwischen. Zuerst assen wir etwas, dann gingen wir zur Faehreanlegestelle, um nach Ernakulam ueberzusetzen, nahmen von der Anlegestelle aus eine Rickshaw zum Bahnhof. Der Zug fuhr unseres Wissens um 10.10. In Wirklichkeit fuhr er um punkt 10 Uhr. Unser desorientierter Lauf auf der Ueberfuehrung, die Anzeigetafel funktionierte nicht, wurde von kurzen Infogespraechen unterbrochen: “Excuse me Sir, do you know from which platform the train to Kollam leaves?” – “Where to?” – “Kollam”. – “?” – “Aehm, Qollaam? No? You don’t know? Kollaem? Ah wait: Gollam… Gollmmm …” — “Ah! Qollmmm! Yes, track four.” – “Thank you very much.” Mit track four war leider nichts, doch wenigstens wussten wir jetzt genau, wie man die Ortschaften auszusprechen hat. Wir verbrachten einige Stunden lesend, essend und beobachtend am Bahnhof. Da wir nicht reserviert hatten, stiegen wir in den Wagen, der fuer alle diejenigen ist, die eben nicht reserviert haben. Das sei gewoehnlicherweise nur ein Wagen in der ganzen Wagonreihe. Natuerlich war der Wagen zum Bersten voll, und zunaechst standen wir im Gang. Da die Tueren stets offen sind, kann man sich da aber gemuetlich hinsetzen, wenn man sich gut festhaelt. Die Zugfahrt dauerte gut drei Stunden. Wir fuhren an Reisfeldern vorbei, Einfamilienhaeuschen in den Palmenwaeldern. Nach drei Stunden waren wir nach dem langen Stehen und vielen Schauen etwas ausgelaugt. In Kollam assen wir am Bahnhof ein Masala Dosa und tranken Tee.

Kollam

Kollam ist eine kleine Stadt voller Geschaefte. Ich weiss nicht, wie ich Kollam beschreiben koennte: Es wimmelt so sehr von Werbung und Plakaten, blassblauen Shivas und zwinkernden Lakhsmis, dass ich die Stadt, die Haeuser fast nicht sehe. Da sind wuchernde Staende, aus denen Bananen quellen. Dort ein Kardamombuero, dort ein Reisbuero, dort ein Plastikeimergeschaeft. Mit den Bueros meine ich eigentlich einfach Haendler. Das Reizvolle an ihnen finde ich den Touch von Kanzlei oder Kontorei. Ein Mann sitzt hinter einem schweren hoelzernen Pult. Vor ihm eine kleine Kupferwage mit Gewichten. Auf dem Tisch sind Reissorten oder eben verschiedene Mahlgrade Kardamom ausgelegt. Mit meist einer schweren Hornbrille auf der Nase beraet der Haendler fachmaennisch seine Kunden. Dieses Freiluftbuero, wo der Ventilator Kardamom in die Luft wirbelt, besticht mich mit seiner sanfen Buerokratie. Ueberall liegen die schweren braunen Registraturbaende, sei es fuer Reislieferungen, Kaffeetransfer, Touristen. Die indischen Archive muessen riesig und unterirdisch angelegt sein. Kollam: schlafende Rickshawfahrer, ein Liebespaerchen heimlich auf dem Ruecksitz eines weissen Mahindra Ambassador unschuldig am Turteln, alte Maenner mit 60kg Reissaecken auf dem Fahrrad, ueberall Ladenbesitzer, die vor ihrem Laden mit Enkelkind auf dem Arm im weissen Lunghi auf und ab gehen.
In Kollam selbst blieben wir nicht, sondern es verschlug uns auf eine Insel. Eigentlich keine Insel, doch irgendwie schien diese Landzunge aeusserst inselhaft. In einem etwas abgetakelten Ferienressort stiegen wir fuer zwei Naechte ab. Die Farbe blaetterte etwas, und das pastellfarbene Jesusrelief auf dem Bootshaus hatte bestimmt schon leuchtendere Zeiten gesehen. Doch gerade vielleicht deswegen, wegen des abgetakelten Kitsches, wie der riesigen fast nicht zumutbaren nackten Nymphe am “Inselkap”, war das alles reizvoll. Zwei Jungs, kaum aelter als 20, schmissen den Laden ganz selbstverstaendlich. Der Aeltere war stets am Kochen, der Juengere besorgte den Rest. Zwei sehr aufgeweckte Menschen, die es sichtlich genossen in ihrem kleinen Imperium. In diesem Auslauefer der Backwaters sind sehr viele kleine Fischerboote unterwegs. Abends werden Netze ausgeworfen und im Dunkeln dann wieder herausgezogen. An einem Morgen fuhren wir mit einem solchen schmalen Boot, nicht breiter als ein Baum, rueber nach Kollam.
Einen Tag verbrachten wir damit, einfach durch die angrenzenden Ortschaften rund um Kollam zu spazieren und ein bisschen weiteren Alltag einzufangen. Losverkaeufer, Laeden, Mann mit Leiter, Motorraeder, ein roter Sari, ein gelber Sari, ein hupender Bus, tausend hupende Busse. Ein Bus namens Vishnu, ein Bus namens Goods Carrier, ein Bus namens Good Sheperd. Es geht gegen Mittag zu. Es ist feucht – aber schattig wenigstens – unter diesen vielen Palmen. Ein Feld mit ein paar Kuehen und den weissen Fischreihern, von denen man oft einen neben einer Kuh sieht. Es scheint, als ob er die Kuh den ganzen Tag begleite. Tueppig, wir gehen sehr langsam. Irgendwo steigen wir in eine Rickshaw, um fast alles wieder zurueckzufahren ins Zentrum. Kollam. Kein Wind, tueppig und stickig. Im Indian Coffee House wird mir ab den flimmernden Schatten der Ventilatoren an den Waenden ganz schwindlig. Die tuerkis Oelfarbe an den Waenden beisst sich ploetzlich mit den knallroten Plastikstuehlen. Trinken. Raus. Bald ist es bessser. An der Faehranlegestelle stinkt es, wenn keinw Luft geht. Alle Frauen zuecken ihr Taschentuch – und ich auch. So ein Tuch ist ganz praktisch manchmal. So schoen die Backwaters sind, an manchen Orten drueckt ein dumpfes Grauen aus dem trueben Wasser empor.

Kollam - Alappuzha Ferry

Am naechsten Tag dafuer, heiter und unbewoelkt, atmet es sich wieder freier. Am Vormittag stiegen wir in die Faehre nach Alappuzha. Beinahe acht Stunden verbrachten wir auf den Backwaters mit zwei kuerzeren Pausen, wo wir sozusagen an einer Schiffsraststaette, einem kleinen Holzhuettchen Rast machten. Dor gab es dann hurry hurry ein Thali auf dem Palmblatt. Gegen Ende streckte sich die Fahrt ein bisschen. Als das gruene Schild Allapuzha 6km verhiess, ahnten wir nicht, dass das 3 vor der 6 weggekratzt war. Eine Stunde lang staunten wir, wie lange 6km auf einer Faehre dauern koennen, bis wir den Verdacht schoepften, dass die Angabe wohl hinfaellig sei. Auf einer unserer Fotos entdeckte ich den Abdruck der 3 und die 36km leuchteten ein.

February 9, 2010

Sich verlustieren in Cochin und Kochi

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 6:51 pm

Acht Uhr abends in Kochi. Mit meiner Mini Nerd Computer Installation (Tastatur und iPhone als Minibildschirm), irgendwie slapstickartig, sitze ich vor dem Haus von Sir Thomas, der uns ein Zimmer vermietet. Drinnen laufen die Fernseher, irgendwo laeuft Wasser, aus dem gegenueberliegenden Hof dringt familiaeres Gelaechter zu mir herueber. Entfernt hinter mir hoere ich David, der duscht. Es ist und war sehr heiss. Die letzten Tage lassen sich sehr einfach beschreiben: wir versuchen einem Hitzeritual zu folgen. Morgens frueh aufstehen – was uns bisher leidlich gelingt, denn die Naechte sind hart gebettet und laut – in ein Kaffee, um ein Idly zu essen. Ein sog. Idly gab es bisher noch nicht – ein solcher Name macht mich neugierig, ich stelle mir irgendwas Ueberraschendes vor, etwas verrueckt Buntes IDLYYYYY- dafuer ein Appam. Reisomelettes, wuerde ich sagen, mit einer scharfen Sauce mit Kokosnuss und bestimmt Chili. Zwei Kaffees, Curt and Fruits und ein sweet und ein plain Lassi. Soviel zum Vormittag. Wir besuchen portugiesische Kirchen und gehen Barfuss um das Grab von Vasco da Gama, der seit einigen hundert Jahren hier nicht mehr liegt. Mir faellt ein, dass die Ueberreste des ehemaligen Vizekoenig von Indien nun in Lissabon im Monasterio de los Jeronimos liegen; die portugiesische Kolonialmacht schlaeft unter gut verschlossenen Deckeln, vielen schweren Grabplatten. Das grosse maechtige Portugal ruht zwischen dicken Buchdeckeln in einer palastartigen Lissabonner Bibliothek. Laengst waechst Gras drueber und Flechten heften sich an die Inschriften. Portugal der ehemalige Global Player, diese Zeit ist unnahbar und doch laeuft man diesen Spuren entlang. Ganze Schulklassen werden zum portugiesischen Seefahrer gefuehrt. Wir gehen im Zickzack oder in Kringeln durch Kochi, zu Fuss oder in der Auto Rickshaw. Strassenhaendlerinnen verkaufen geometrische Schablonen, womit man mit Kugelschreiber schoene Muster Zeichnen kann. Ja, wir bewegen uns hier anders. Langsam, rund, ruhig. In Kringeln. So als wuerde man traege versuchen die Schrift Malayalam nachzutanzen. Wir imitieren die Bewegungen der Menschen hier. Unsere Koepfe kippen von rechts nach links, wenn wir zustimmen und auch, wenn uns etwas sehr gefaellt. Dazu die luftigen Kleider. Ich komme mir vor wie ein grosser bunter Luftballon. Die Frauen sehen hier aus wie Schmetterlinge, nein, wie Prinzessinnen. Hier darf mancheine ihre Prinzessinnentraeume ausleben. Die kleinen Maedchen schoepfen hier aus dem Vollen. Rosa Rueschenkleider, die bei uns in Fastnachtskisten bis auf Februar warten, werden hier fuer Schul- und Tempelausfluege angezogen, ebenso unzaehlige Armbaender und Ketten, dass es nur so klimpert. Wo wir bei Schmetterlingen sind – die gibt es auch. Bei ihrem Anblick faellt mir das Wort Sommervogel ein. Sie sind grosse schwarze Falter mit rotem Punkt auf den Fluegeln und kleinen Fluegeln unterhalb den grossen – eine Art Heckflosse.
Sie verharren fliegend im Stillstand, so dass man herumgehen und sie anschauen kann. Am liebsten moechte man sie fangen. Nie uebers Herz zu bringen – sie zu sammeln. Nachmittage verstreichen mit Safttrinken. Lesen. Ich teile die hitzigen Nachmittage momentan mit denen Bukowskis, die er in seinen Geschichten in einem gottverlassenen Mexiko verbringt, im Enddarm des amerikanischen Traums, wo er sich eigentlich meistens befindet. Der gute alte Spinner. Ein Chinasky. Der ist jetzt, wohl nicht zum ersten Mal, in Buchform nach Indien gereist.
Vier Uhr. Wir brechen auf zur Yoga Stunde an der Beachroad Junction, einer Schule im Haus eines Yogis. Yogi Abe, Abraham, unterrichtet seit vielen Jahren und reist mit seinem ganzen yoginischen Witz und Geist durch die Weltgeschichte, um den Leuten die Asanas beizubringen sowie das lebensnotwendige “relaaaaaax and breeeeeathe”. Wir moegen ihn so sehr, dass wir eine CD seiner gesprochenen Lessons gekauft haben, um seinen stets gleichen gesungenen Saetzen zu folgen: “slooow deeeeep inhalatiooooon”. Wir sitzen in einem durchraeucherten Raum mit Sicht aufs Meer und machen the tree, stehen auf einem Bein mit erhobenen Armen, beugen und dehnen uns zu einem rainbow, schaukeln bauchlings vor und zurueck mit den Fussgelenken in den Haenden, wagen es den stolzen Peacock nachzuahmen und versuchen unsere horizontale Koerperlaenge auf unseren Haenden zu balancieren. Da dies schwierig ist, ahmen wir erfolgreicher die Kraehe nach und kippen unseren zusammengekauerten Koerper nach vorne auf die Ellbogen und tragen unser Eigengewicht mit den Haenden. Ja, ich scheine etwas zu prahlen. Die ferne Stimme von Pater Zapf, meinem Deutschlehrer, ruft mir die aesopsche Maxime in Erinnerung: Hic Rhodos, hic salta! Hier ist Rhodos, vollfuehre also hier deinen Sprung! So wurde ein antiker Prahlhans einst auf griechischem Festland fuer seine athletischen Erlebnisse auf der fernen Insel geruegt. Gut, gut. Genug der Geschichten, ein kleiner yoginischer Beweis wird schon noch folgen.
In der letzten Yogastellung, der des toten Mannes, entfliehen nach zwei schweisstreibenden Stunden die Geister. “Feel freeeeeee like a float. You are floating on a wide rivaaaaa”, singt uns der Yogi. Ich bin ein schwerer gegabelter Ast und treibe in der Aare. Ja, “der” Fluss ist bei mir prototypisch. Was fuer die Inder der Ganges sein muss, ist fuer mich die Aare. Oh Endoooo (Endo Anaconda/Stiller Has), wie schoen koenntest du mit Yogi Abe mitsingen: de schoene blaaaue Aaaaare naaaah, ooooooom. Pantha rhei, ich sehe blau und bin schon eingeschlafen. Weggespuelt. Abe setzt mit Gesang ein, und ich erwache gurgelnd. David kichert neben mir.
Ganz hungrig steigen wir in eine Rickshaw und fahren in die Palace Road, in der Naehe des ehemaligen suedindischen Koenigspalastes. Dort ist das Krishna Cafe.
Das Essen fuehlt sich ganz anders an, wenn man mit den Fingern essen kann. Saucen, Yoghurt – praktisch alles mit den Haenden, und Chappati und sonstigen Fladen natuerlich. Im Hinterhof sind mehrere Maenner zu Werke. Einer spuelt den Hof, in der Kueche sind sie am Schneiden, Haeckseln, laut am Reden, Umschuetten, es dampft und tropft. Alles ist einfach und nicht verborgen. Es erscheint mir vieles hier in selbstverstaendlicher Weise ehrlich. Am besten gefaellt mir dabei fast die Waage ausgangs des Restaurants: vor dem Gehen waegen sich dort gegen ein paar Rupees die meisten Frauen. Die moechten wohl wissen, wieviel sie nun gegessen haben? Dieser gesundheitliche Check ist vielleicht in besonders guten Restaurants beliebt?
Abende. Plaudern mit einem Jungen, der hier im Haus scheinbar etwas mithilft und eigentlich einfach meistens “da” ist. Ein lieber etwas schmachtender Juengling, der meist irgendeiner Gaestin nachtrauert und dramatische suedindische Telenovelas schaut mit aehnlichen Motiven. So zaehlen auch wir zu den unzaehligen Bekanntschaften, die er so aufrichtig lieb beraten hat.
Auch jetzt ist es wieder Zeit, sich langsam ins Bett zu legen. Die Maedchen aus dem Nachbarhaus singen schon im Chor miteinander ihr Abendlied. Aus voller Kehle singen sie. Jeden Abend. Beeindruckend. Ich bin nicht muede. Wir sind abends nie muede, nur morgens. Die ganze Nacht haben wir nur, um zu schlummern. Der Schlaf kommt erst gegen Morgen. Zwischen Schlummer und Schlaf kommt Hundegebell, Kraehen, streitende Katzen, fruehe exotische Voegel, die heulen und der Muezzin. Der Schlaf kommt klatschend, dank des kontinuierlichen Rhythmus des Waescheklopfens.
Doch morgen werden wir das nicht mehr hoeren. Mit den Voegeln verlassen wir das Nest, um den Zug nach Kollam zu erwischen. Wir fahren suedwaerts noch weiter in die Backwaterregion, um am Ende wieder zurueck ueber Alappuzha und Kochi gen Norden zu reisen.
Jetzt sticht mich die letzte Moskito fuer diesen Abend. Gute Nacht.

February 8, 2010

Die Reise begann beinahe unbemerkt

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 12:12 pm

In der Schweiz sind wir eingeschlafen, in Indien sind wir aufgewacht. Beinahe unbemerkt sind wir nach Suedindien gereist. Wobei unbemerkt vielleicht der falsche Ausdruck ist. Wir sind mit einer Selbstverstaendlichkeit hierher gereist, die mich an Traume erinnert. Wie oft sprang ich in Traeumen auf ein merkwuerdiges Luftschiff, ohne zu hinterfragen, wohin ich eigentlich reisen moechte und was fuer ein merkwuerdiges Vehikel mich da forttraegt. Mit also einer eigentuemlichen traumaehnlichen Ruhe bestiegen wir eines der weltbekannten Luftschiffe des Emirs von Dubai. Ein paar Stunden sassen wir in diesem extraterrestrischen Raum, sinnierten, lasen, stellten uns vor, schliefen, traeumten von irgendwas. In der Ferne ein starkes Gewitter. Manchmal sieht man im Blitzlicht Saudiarabien aufblitzen. Ansonsten Dunkelheit. Einige Stunden spaeter der Flughafen von Dubai. Ploetzlich viele Leute. Die Lautsprecher verbreiten saeuselnde Frauenstimmen, deren Fluginfos sich wie erotische Angebote anhoeren. Arabien bei Nacht, an einem Flughafen. Ein Maerchen einer Nacht im Jahr 2010. Geheimnisvoll wirken sie so spaet in der Nacht, die Verschleierten und Vermummten. Von ihnen gibt es viele. Goldige Schuhspitzen funkeln auf unter dem schwarzen Tuell. Glitzernde Pailleten. Verhuellung soll vor neugierigen Blicken schuetzen, doch mich macht sie eigentlich erst recht neugierig. Merkwuerdig, wie ich sie zugleich verachte und doch igendwie wieder bestaune. Was muss so sicher verborgen werden? Es muss doch etwas sehr Wertvolles sein, was sich fremden Menschen nur anhand eines Blickes oder der Bewegung im Stoff offenbart. Hat da unter dem Schleier gerade jemand schallend gelacht? Ueblicherweise schaue ich diese Frauen an wie geisthaft Entkoerperte. Sie sehen mich. Ich sehe sie und sehe sie nicht. Im Daemmerzustand male ich mir wunderschoene unglueckliche Prinzessinnen aus. Sie leben in Gefangenschaft, nicht jedoch bei einem schnarchenden Drachen oder eifersuechtigen Riesen, sondern in einem Selbst, das sich wie ein Geist im Vorhang zeigt. Zurueck am Flughafen.
Ganz viele suedindische Familien sitzen bereits am Terminal mit Kleinkindern, die sich ab soviel neuen Bekanntschaften freuen. Wir warten und eine Stimme aus Muenchen kommt sogar hierher, der Text beziehungsweise. Hat man einmal den Deckel des Computers geluepft, schon wird man von fernen erfreulichen Stimmen eingeholt, unterwegs in der closed area. Eine kleine Geisterbeschwoerung – und meine Freundin Sybille sitzt ploetzlich an unserem Tisch. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis wir mit Hologrammen kommunizieren, mit unseren Abbildern, mit Entkoerperten, Geistern. Die Lautsprecherdurchsage. Eine grosse Menge erhebt sich. Kinder erwachen. Auf ein neues Luftschiff. Man hat uns in die Businessclass umgesetzt. Hier fuehlt man sich gleichermassen umsorgt und hiflos wie ein Kleinkind. In grossen Sesseln sitzt man, und bevor das Tablett mit dem Essen gereicht wird, wird ein Tischtuch ausgebreitet. Drei Stunden mit ein bisschen Doesen und Essen. Ich muss die Stewardess bitten, mir die Sachen wegzunehmen, damit ich aufstehen kann. Die Stewardess kommt mir vor wie eine Nanny aus einem Kinderbuch. Ich kann mich nur nicht erinnern aus welchem. Neben uns sitzt ein Inder, der uns waehrend des Essens von seinem Leben in Dubai als Geschaeftsmann erzaehlt. Der Flug dauert zu wenig lang, um zu schlafen. Schon wird es hell. Die Nacht ist nach vier Stunden bereits vorbei. Unter dem Dunst sehen wir Palmen. Unwirklich. Doch tatsaechlich – grosse, lange, gebogene Palmen. Die Raeder werden ausgefahren, wir sinken, sinken und rollen durch eine gruene Ebene. Kochi. Es ist heiss. Ueberall ist es erstaunlich ruhig. Gemuetlich fahren wir mit einem Taxi in die Stadt. Ein Geruch, der mir nicht ganz unbekannt vorkommt, mich aber doch wie neu ueberrascht, kommt entgegen. David erkennt ihn gleich wieder. Wir sind muede, wahnsinnig muede. Im Zimmer, das wir mieten, legen wir uns hin und schlafen unter lautem Kraehengekraechz und Ventilatorwind ein. Ich traeume von Kochi. Wir laufen durch die Gegend und schauen uns Staende an. Es kommt sogar zu einer lauten Auseinandersetzung mit einem Guesthousebesitzer. Es ist heiss, ich drehe mich auf die weniger klebrige Seite und denke “noch ein bisschen von Indien traeumen, bevor ich hier wieder mitten im Winter oaufwache”. Verdutzt wachte ich aber in Indien auf und war somit endlich angekommen.

November 26, 2009

Mandelstadt

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 12:44 pm

In der dünnen russischen Winterluft findet die Schwalbe im Flug keine Nahrung. Ihre Lieder werden zu fallendem Eis und zerplatzen stumm wie Feinglaus auf der Erde. Die Schwalbe flieht den Norden und den Schwarm, krallt die Schwalbenfüsse in warme süditalienische Erde und schlägt Wurzeln in Neapolis, der Stadt der Granita a Mandorla, süss, theatralisch, mit offenen Geheimnissen. «Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein», die schwachen Lungenflügel schlagend. Das war damals, als das Luftholen auch im Stadtzentrum Wohltat war. Heute verdichtet sich Lärm und ätzender Gestank der Vespen zu Schwindel und einem eigentümlichen Krampf oberhalb der Nasenwurzel. So, dass man fürchtet, dass einem noch der letzte Gedanke an vergangenen Traum herausgerissen wird. In einem Traum habe ich dich nämlich in Neapel gesehen. Ich habe die Statuen, die Aggrippina im Museum gefragt, ob sie dich auch gesehen haben. Es scheint, sie können sich nicht recht an dich erinnern, aber selbst eines blaugelb gekleideten Dichters mit Aquarellblock können sie sich nicht mehr entsinnen. Vieles rauscht an diesem glatten, geschliffenen Marmor vorbei. Im Traum zumindest habe ich dich in Neapel gesehen. Du warst zum Neapolitaner mit Knollennase geworden. Du hast dich sichtlich hier niedergelassen: Nichts mehr zu sehen von deiner Flüchtigkeit. Du verlagerst nur noch deine körperlichen Schwerpunkte – aus der kleinen Dichterwohnung in die Bar um die Ecke, wo all die anderen Männer sitzen. Von der Parkbank rauchend auf die Schwelle eines Ladeneingangs. Vielleicht lauschst du Caruso, der das goldene Horn des Grammophons in Schwingung versetzt und das Kätzchen auf der Wolldecke weckt. Ein mürrischer und etwas selbstzufriedener Stadtpoet bist du vielleicht geworden. Du wiegst schwer irgendwo zwischen Nord- und Südpol und denkst vielleicht an den Norden. An hier unbekannte Farben, an ein weit entferntes Blauweiss. Ich sah dich an der Theke einer Bar mit Männern im Bass plaudern. Pulcinella plaudert hier schamlos in beliebiger Gesellschaft deine Geheimnisse aus. Er gibt sie den Bienen und den Tauben mit. Deine Geheimnisse sind scharfe Honigbisse zuckersatter Bienen, die um die Granita schwirren. Die graublauen Tauben breiten deine Geheimnisse schimmernd auf ihren Fächern aus und fächeln dabei Lüftchen. Hier brauchst du deinen Mantel nicht, das warme Tier. Federn reichen. Ein Flug aus dem Mantel- ins Mandelland, Mandel‘stam.

January 9, 2009

Nach alten Leuten googeln

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 12:22 am

Obwohl ich gerade aufbrechen möchte, beschäftigt mich ein kleines Kartonpaket, das vis-à-vis von mir auf dem Tisch steht. Ich bin soeben von der Post zurückgekehrt, wo mir dieses zehn auf zwanzig flächige und 15 cm hohe Päckchen abgegeben wurde. Ich hatte 6 Franken zu bezahlen, denn es handelt sich um eine Rücksendung. Ich kenne das Päckchen natürlich. Am 23. Dezember ging ich in die überfüllte, von Geschenken angereicherte, Bahnhofspost, um jemandem, der weit weg ist eine Freude zu machen. Und schickte das kleine Schachtelchen mit besten Wünschen und der Hoffnung, dass es ankommt, ab. Weit weg ist eigentlich nicht ganz richtig. Das Paket reiste nur bis nach Zürich und prallte an der Tür eines Stadthauses im Kreis 7 anscheinend ab. Die Entfernung in einem kleinen Land ist selten der Raum, sondern vielmehr die Zeit. Mindestens 50 Jahre trennen mich von dem “Empfänger” gemäss Alter und 4 Jahre im Nicht-mehr-wissen voneinander. Insgesamt haben wir uns 2 Jahre nicht gesehen und  zwanzig Jahre nicht gekannt.

Jetzt steht diese – beinahe hätte ich geschrieben “Person vor mir” – Rücksendung vor mir. Vollgeklebt mit Adressen, Barcodes, Postklebern, lauter Informationen – ein einziges Fragezeichen. Wo kann sie sein, diese ältere Dame und ihre Freundin, an die ich vielleicht mit kleinen stichelnden Schuldgefühlen dachte. Die Antwort auf meine Sendung: Ich bin nicht mehr da.

Natürlich habe ich mich zuerst im TwixTel, im TelSearch, auf der Seite des  gemeinnützigen Frauenvereins erkundigt. Da ich ihren Namen aber nirgends finden konnte, versuchte ich es einfach auf gut Glück an die mir bekannte Adresse. Ihre Freundin und Nachbarin im oberen Stock war oder ist ja auch noch da? Google ich jetzt ihren Namen, stosse ich auf eine Homöopathin in Augsburg (ich denk die wahre *, die ich suche, war doch eher eine Besucherin des gewöhnlichen Hausarztes). Ein weiterer Eintrag ist der eines feschen gleichnamigen Mädels aus der Steiermark, das aus ähnlicher Motivation wie ich bei StayFriends aktiv ist. Ansonsten Einträge im Moneyhouse. Beim Gedanken, die beiden im Moneyhouse anzutreffen, muss ich etwas lachen. Vielleicht führen die beiden ihren eigenen erfolgreichen Frauenverein mittlerweile? Der Gedanke ist tröstlich. Befreundet, sozusagen, eigentlich eher benachbart und sozialisiert waren wir zusammen im no-money-house, im Hafen für pensionierte, ausgediente Hausmädchen, altledige Damen und blauäugige groschenlose Studentinnen, die Zürich für den Windkanal in die gloriose Zukunft hielten. Wir nannten es “das Kloster”. Schwester Sarah und Schwester Monika sowie ihre zukunftsträchtigen Freundinnen und die  älteren Schwestern Frau Güfeli (ehemaliges Hausmädchen und Fast-Familienmitglied), Frau Gräser (ehemalige Psychiatrieschwester), Frau Gruberova (ehemalige Angestellte, sehr belesen, irgendwie die Ingeborg Bachmann im hohen Alter und versteckt hinter grossen 70Jahre-Sonnenbrillengläsern). Und viele mehr. Suche ich namentlich nach einer dieser älteren Nachbarinnen, finde ich einen Facebook-Eintrag:  “ist bei einem sozialen Netzwerkprogramm, das Menschen mit Freunden und anderen verbindet”. Doch diese Dame, die mich anstrahlt, ist keine Bewohnerin des no-money-house! Soziales Netzwerk … Findet man denn immer die, die man wirklich sucht? Suche ich Miss Facebook 2008? Zufälligerweise kenne ich sie sogar. Ich geb zu, das war die letzte Person, nach der ich gesucht hätte. Da stosse ich täglich auf Leute, die wollen, dass man sie kennt, erkennt und wieder sucht. Oft erfülle ich natürlich solche narzisstischen Wünsche. Darum, bitte, ich suche einmal jemanden, der sich keiner virtuellen Community eingeschrieben hat und ganz schüchtern selbst die physische Community betrat. Spucks doch aus, du allwissendes Google.

Ich klappere auf der Tastatur. Ich fühl mich von diesem Paket herausgefordert. “Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden” kann ich nachvollziehen, doch “keine Einträge zu dieser Person gefunden”, “diese Person existiert nicht”, “gibt es nicht” lass ich nicht so gelten.

Diese Frauen haben kaum den Stadtraum betreten, denn jeder Schritt kostete sie zuviel. Jüngere Leute, die ebensowenig ihren physischen Lebensraum wahrnehmen wie die Schwestern, die findet man hier meistens im Internet. Die haben sich wenigstens dafür entschieden zuhause unterwegs zu sein. Ob die älteren Schwestern jemals im Internet waren? Vielleicht haben sie sich mit einem jüngeren Bild getarnt oder sind diejenigen, die sich hinter einem der rätselhaften low profiles verstecken?

Ich mache einen Test: Ich google meinen Grosspapi, der ein fleissiger Internetbenutzer ist. Und – ich bin natürlich enttäuscht. Kein einziger Eintrag! Dabei war mein Grosspapi Jahrzehnte, und ich mach mich nicht etwa lustig, im Samariterverein und spendete über zwanzig Jahre gewissenhaft sein Blut. Die älteren Leute suchen im Internet Informationen, keine Freunde, sagt er mir erklärend, denn Freunde habe man schon oder finde nun auch keine mehr.

Ich kann den Schwestern in Zürich kein einfaches unkompliziertes Pixelgeschenk machen, das ich bei Facebook oder StayFriends poste. Es geht nur per Schachtel und Reise durch den Raum, vor die Tür, per Knopfdruck durch die Hausklingel. Natürlich brauchts da mehr als ein “Willst du meine Freundin sein” zu einer Bekannten, die man nie trifft und die man wohl nie im Leben einfach so mal aufsuchen würde. Denn was sagst du an der Tür? – Ich habe eben gerade an dich gedacht, und ich so fuhr ich zu dir (mit dem Hintergrund, dass man sich 6 Jahre nicht mehr gesehen hat und an der Schule abundzu, wenns gut kam, ein paar Mal zusammen in der Mensa war – doch genau die, ja die!, wollen ja alle deine Freundinnen sein! Keine Ahnung wieso. “Christiane F. has got 1188 friends”…)

Ja, warum wollte ich ein Geschenk an jemanden schicken, den ich nie sehe, und selbst wenn ich in Zürich bin, bin ich ehrlich, nicht unbedingt mit überzeugter Vorliebe aufsuchen würde? Das fragt mich das Paket. Und schüttelt sich vor Lachen. Wollte ich ein Gutmensch sein zu Weihnachten? Mich doch mal melden nach zig Jahren, mit der Erwartung, dass sie ja eine solche Freude hätten eine Überraschung zu erhalten, ein sich-an-sie-erinnern? 

Meine Erinnerung verliert ihre Referenz. Zurück kam nur die Schachtel. Das kann jedem passieren. So wirklich wie die Postschachtel, so steht in Zürich das no-money-house. Ich gehe hin und drücke auf den alten Türknopf: enter oder – ich mache ein post-it: Bitte übergeben Sie dieses Paket Frau * und *. Falls dies nicht möglich sein sollte, teilen Sie das Paket untereinander auf. Herzliche Grüsse an alle Schwestern, Sarah Müller.

February 4, 2008

Neulich im Zug

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 8:47 pm

Es war ein Sonntagabend. Ich bestieg am HB Zürich den Schnellzug nach Bern. Ich überlegte etwas länger als sonst, ob ich oben oder unten sitzten sollte und nahm schliesslich neben der Gepäckablage in einem Viererabteil platz. Etwas lustlos nahm ich mein Buch hervor und begann etwas darin zu lesen, als plötzlich drei junge Männer ins Abteil kamen und sich etwas unsicher zu mir setzen und dann doch rücksichtsvoll auf mein und eine anderes Sitzabteil aufteilen wollten. Ich sagte ihnen, sie können ruhig zusammen neben mir sitzen, es würde mich nicht stören. Sie sprachen in einer fremden Sprache. Ich hielt sie für Zentralasiaten, konnte aber ihre Sprache keinem mir dort bekannten Land zuordnen. Zu dieser Zeit dachte ich schon längst nicht mehr an die Zeilen in meinem Buch und klappte es daher auch bald einmal zu. Der, welcher gegenüber von mir sass, las murmelnd einen Text. Er hatte einen pakistanischen Basmatireissack dabei. Das machte mich schmunzeln, weil ich auch mal überlegt hatte den als Tasche zu verwenden. Irgendwann dann müssen wir ins Gespräch gekommen sein. Ich fragte sie, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Es sei Farsi, denn sie seien aus dem Iran bzw. einer aus dem türkischen Grenzgebiet zum Iran. Wir unterhielten uns also etwas über den Iran. Ich kenne viele Leute, die kürzlich dort gewesen waren, einschliesslich mein Freund, und interessiere mich generell für diese Region. Ich erzählte, wo ich in letzter Zeit so gewesen bin, dass ich auf dem Rückweg aus Georgien in der Türkei gewesen war. Deshalb fragte ich, von wo der eine genau stamme, ob er in der Nähe von Kars aufgewachsen sei. Eigenartigerweise kannte er Kars nicht, was mich sehr erstaunte, zumal er sich als Kurde ausgab. Dass er nicht wie ein Kurde aussah, schwante mir , aber man gibt sich meistens nicht ungläubig, wenn jemand seine Volkszugehörigkeit verrät. Es kam mir manchmal vor, als ob sie mir geschickt in gewissen Fragen auswichen, gerade dann, wenn ich wissen wollte, wo sie denn studiert hatten und wie die Lage denn früher gewesen war und wie sie heute aussieht. Die Unterhaltung war natürlich an und für sich sehr nett , sonst hätten wir auch gar nicht soviel reden können, denn die Zeit verstrich im Eilzug. Die drei jungen Männer waren sehr sympathisch und v.a. höflich. Offensichtlich weilen sie noch nicht so lange in der Schweiz. Ich schien eine der ersten Personen zu sein, mit denen sie sich ausführlicher unterhielten. Die Unterhaltung war eigentlich nur mit einem der drei in Englisch möglich, und dieser übersetzte jeweils seinen Freunden. Der andere konnte schon etwas Deutsch. Sie waren offensichtlich auch noch etwas unsicher, wie sie sich mit einer Frau unterhalten sollen. Ganz offen meinte einer von ihnen: “Entschuldige, wenn ich dich beim Reden noch nicht anschaue, das ist für uns noch so ungewohnt. Aber ich gebe mir Mühe das zu lernen.” Da musste ich schon ziemlich lachen. Wir kamen auf die momentane politische Lage im Iran zu sprechen, auf Amerika und natürlich Afghanistan und Irak. Als ich Afghanistan sehr bedauerte und vor allem den Untergang einer ganzen Kultur, stellte ich fest, wie alle drei mich gebannt anschauten. Ich fand, es sei traurig, dass Afghanistan oftmals fälschlicherweise mit Terrorismus in Verbindung gebracht und das Land als solches mit seiner ehemals sehr säkulären Kultur beinahe vergessen werde. Der, welcher sich als Kurde ausgegeben hatte, schaute mich an, sagte merkwürdig beherzt: “Bravo, dasselbe fühlen wir auch.” Naja, meinte ich, so würden viele andere Menschen hier eigentlich auch denken. Dann meinte er, sie müssten mir etwas gestehen. Sie hätten mich angelogen. Sie seien gar keine Iraner bzw. Kurden, sondern Afghanen. Natürlich war ich ganz konsterniert. Zuerst musste ich lachen, weil irgendwas bei der ganzen Unterhaltung ja nicht reingepasst und es zuviele Ungereimtheiten gegeben hatte. Dann fragte ich sie, warum sie sich denn als Iraner ausgeben. Als Afghane habe man doch einen eher schlechten Ruf. Erst kürzlich habe man ihn als “Tourist” beschimpft. Ich muss wie ein Fragezeichen im Raum gestanden haben. “Was ist denn in der Schweiz bitteschön schlimm daran Tourist zu sein?” Auf diese Frage schauten sie mich wiederum mit grossen Augen an. Es ging noch eine Weile so hin- und her, bis ich zuguterletzt verstand, was sie mit dem absurden “Touristen” meinten. Terrorist. Ich glaube man wird mir doch hier zustimmen, dass es sich also um einen sehr tumben, sogar vernachlässigbaren Schweizer gehandelt haben muss, welcher ihn aufgrund des “Afghanentums” als Terroristen beschimpfte. Ebenso hoffe ich, dass meine Behauptung, dass viele Schweizer über einen etwas differenzierteren Blick und ein etwas sensibleres Verhalten verfügen, wahr ist. Auch das kann angezweifelt werden. Ich konnte es kaum glauben, dass drei Afghanen vor mir sassen und sich allen Ernstes aus Vorsicht als Iraner ausgaben, weil Farsi ihrer Landessprache Dari ja ganz nahe steht. Ist das wirklich die Möglichkeit? Oder war das auch eine Geschichte? Die Begegnung wirkte dennoch rührend. Sie entschuldigten sich tausendmal dafür, dass sie mir nicht von Anfang an die Wahrheit erzählt hatten. Sie hätten ja nicht ahnen können… und so weiter. Der, welcher sich als Kurde ausgab, war schliesslich ein Hazara, ein Angehöriger einer Minderheitengruppe in Afghanistan. Ich insistierte etwas naiv, dass momentan der Film “The Kite Runner” in den Kinos gezeigt werde, in dem es unter anderem um einen Hazara-Jungen gehe. So quasi: So ganz egal ist uns euer Land auch wieder nicht. Der Name des Buchautoren Khaled Housseini schien in ihm zwar eine Erinnerung zu wecken, doch ich erfuhr nicht mehr, ob er die Geschichte kannte. Wir fuhren in Bern ein.Wir verabschiedeten uns auf dem Bahnsteig. Das war eine kurzweilige Fahrt der unglaublichen Geschichten.

Im Schwimmbad

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 7:51 pm

Während der Sommermonate habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, während des Verfassens von Semesterarbeiten oder überhaupt während intensiver Lernphasen ins Freibad zu gehen und meinen Körper im Wasser abstrampeln zu lassen. Dazu hat das an frühen Nachmittagen so stille Wylerbad seine eigene kleine Poesie. Ein feiner Windhauch kräuselt die glatte Wasseroberfläche, welche zwei Rentnerinnen und ich in gleichmässigem Rhythmus schweigend durchpflügen. Danach legt man sich auf den heissen Stein und lässt sich von einer einzelnen Ameise die Wade kitzeln. Immer wieder sieht man dieselben Gesichter, meine Lieblingsdame mit der Taucherbrille, die genüsslich hin- und herplanscht, den Mann, der ausgestreckt am Beckenrand den ganzen Tag der Sonne frönt.?Jetzt im Winter ist es irgendwie anders im gedeckten Hallenbad. Der Chlorgeruch ist etwas streng, und die Hektik im Becken am frühen Abend erinnert an den Abendverkehr. Es ist immer interessant, während des Schwimmens das Geschehen zu beobachten. Ich habe deshalb bis jetzt noch nicht die Schwimmbrille ausprobiert. Da fällt mir immer wieder der Mann in den Mitvierzigern hinter seiner Schachzeitschrift auf. Abundzu scheint er ganz vertieft zu sein in einen Schachzug, später beobachtet er längere Zeit den kräftigen Schwimmzug einer Dame.
An manchen Tagen kommen sogar die Synchronschwimmerinnen, die zu lauter Musik ruckartig und mit angespannten Gliedern ihre Wasserakrobatik im Gleichtakt üben. Ich schwimme in der Bahn für “Kreisschwimmer” und werde immer wieder von zwei tätowierten Wundern überholt, die ganz ergeben wie zwei Fische durchs Wasser tauchen. Obwohl man wesentlich weniger freizeitlichen Charme empfindet als im Freibad, ist das Hallenbad trotzdem nicht nur Sport-, sondern auch ein bisschen Schauplatz.

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