May 26, 2006

Joggen während der Grauen Nächte

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 9:14 pm

Wir waren joggen in einem Minipark, gleich hier um die Ecke, wo sich alle Hündeler getroffen haben. Erste Gehversuche im Frühjahr sozusagen.
Das stelle man sich aber mal nicht so gesittet , bzw. reglementiert vor, wie bei uns!
Etwa 30 Hunde, kurz, lang, klein, langhaarig etc.. mit ihren Haltern.
Eine lange schwarze kurzbeinige Wurst ist auf Karin, meine Weggefährtin zugaloppiert und hat sie angebellt. Eine Dogge, glücklich freilaufend natürlich, hat uns böse angeknurrt. Der Rest rannte gutmütig hechelnd, wie wir ; )), vorüber. Eine freilaufende “Dobermännin” mit noch angehängter Leine rannte den Räuden hinterher, die wiederum versuchten es bei der unförmigen “Dackelin”. Dazwischen , nebst der paarungszeitlichen Verhaltensweise, schoben sich ein paar langsame Kinderwagen über den Weg mit ein paar plaudernden Müttern dran. Ich war dann für einen kleinen Ausbruch aus diesem Hundeparadies. Vor dem Obshezhitie (Wohnheim) kam uns noch ein uraltes Pärchen entgegen, das unser Bänkli auf dem Heimweg zum Verschnaufen nötiger hatte als wir. Das Mannli war weit über 90 und sabberte etwas, das Frauchen erklärte uns alle Blümchen auf der Wiese. Dann wurds langsam kalt, und wir gingen rein und duschen.
Ach wie schön… diese bElye nOtschi (weisse nächte), die momentan zwar eher sErye sind (grau).

May 14, 2006

5 Stunden Nacht

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 9:57 am

Den Nachmittag lernend auf der Sonnenbank verbringend, gegen Abend in einem der 88 Zimmer zum Essen eingeladen sein, bis zum 11-Uhr-Eindunkeln Bier und Kaffee trinken, sich um 12 auf den Weg in die Stadt machen. Spazieren dem breiten Fluss entlang, an den Frachtschiffen, an einem Orangenmond vorbei, der seit Stunden unentschlossen auf und ab wandert und sich nicht entschliesst hinter einer Fassade mal endgültig zu verschwinden. Warten auf eine Kollegin am aufgeschlagenen Buch Puschkins, wo dies alles geschrieben steht. Die Nadel der Peterpaulsfestung glänzt scharf, zerschneidet die Wolken. Rennen über die aufklappbare Brücke, Ausatmen auf der anderen Uferseite. Asphalt und Strassenlaternen sehen wie auf einem Spielbrett aus, das vertikal steht.
Über den Schlossplatz ins Novus, von dort in die Vtoroj Etazh. Dort schliesslich anstrengende Musik und etwas anstrengende deutschsprachige Typen, die den kleinen Mädchen erst mal erklären müssen, was Russland eigentlich ist und bedeutet. Aber selber nicht fähig jemanden halb normal anszusprechen. Eine langhaarige Blonde im Jeanskleid wendet sich tanzend nur genervt ab von dem deutschen betrunkenen Hünen, und Worte wie “Müsste man in der Schweiz um die Uhrzeit nicht schon unbedingt im Bettchen sein?” gehören ja bereits zu den Klassikern der Ablöscher ; )
Wie auch immer… es gab einen erfreulichen Stromausfall. Dunkel, endlich versteht man sich, die Leute beginnen erst recht zu tanzen…
Um vier wird es Tag… Auf der Strasse torkeln junge Pärchen, ein Mädchen muss sich ganz fürchterlich übergeben. Ihr überfürsorglicher Freund lässt sie keine Sekunde aus den Armen, tröstet und redet, versucht ein Auto anzuhalten. Der Kollege steht benommen daneben. Das erste Auto, das hält ist die Miliz, die erst mal alle auseinandernimmt nach Papieren, illegalen Gegenständen… Das Mädchen ist bleich und fertig und beginnt herzzereissend zu flennen. Der Freund hebt sie hoch wie ein kleines Kind… Die Miliz zieht weiter.. Kleines Drama, umso mehr, als nach einer Minute eine andere Streife hält.. Die Kleine wird hysterisch, und der Freund muss schon alle seine Kräfte aufwenden, um sie zu beruhigen. Der Kollege lässt sich von der Miliz auseinandernehmen und lacht dabei..Auch dies geht vorüber, die Miliz fährt weiter. Der Freund versuchts erneut, hält den Arm raus. Nun reichts dem Mädchen, schlägt ihrem Freund auf den ausgestreckten Arm, lärmt ihn sichtlich an, reisst sich störrisch los, wie es diesem doch endlich gelingt ein Auto anzuhalten. Der Kollege grinst immer noch. Der Freund bittet den Fahrer zu warten, rennt seiner aufgelösten Freundin hinterher, die er anscheinend dann irgendwo in einer Seitenstrasse noch einholen kann.
Es ist 5, taghell, wir sitzen im Kaffee. Um 6 nehmen wir den Bus Nr. 7. Der Fahrer lärmt, wohin wir wollen, ein paar andere Mädchen nennen ein anderes Studentenheim, das auf unserem Weg liegt. Der Fahrer fährt ohne Marschrut, d.h. fährt irgendwie. Die Frau Konduktor schimpft die ganze Fahrt über mit ihm, worauf er zornig beschleunigt. “Wo fährst du denn jetzt hin? Du hast den Mädchen nicht gesagt, wo du durchfährst. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Musst deinen Passagieren doch sagen, wo du durch fährst!” – “Habe ich etwa nicht gefragt, wo sie hinmüssen? Was denn noch?” – “Überhaupt, wo fährst du eigentlich durch?”
Der Haussegen bei Herr und Frau Busfahrer stand also etwas schief heute morgen.
Die Sonne strahlte bereits golden, der Himmel war ganz rot. Um 7 waren wir dann hier. Eine Dusche, dann zwei Stunden Nickerchen. Ein neuer Tag.

May 13, 2006

In der Hitze erscheinen die Ahnen…

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 1:32 am

Ein heisser Maiabend. Im Unterrichtssaal ist es beklemmend heiss. Es ist 17.40 h. Die gut achtzig universitären Ahnen starren nachdenklich, erhaben, ermahnend, müde von den Wänden auf uns, das ebenso müde, zum Tode ergebene Auditorium. Der junge Professor begibt sich auf seine elliptische Laufbahn ums Katheder. Mit dünner Kreide zeichnet er ein feines Netz von Symbolen auf eine bis zu Silbergrau verkratzte Wandtafel. Ich überhöre jenste Worte und studiere die Brillenmodelle der greisen Ahnen und Ahninnen.?Es scheint, als ob sie schon viel zu lange hier hängen als tote Gelehrtenreihe in Sepia Schwarzweiss. Parade macabre. Da ist in der oberen von zwei Reihen, als zweiter von links, ein sanftmütig lächelnder Mann mit polierter Glatze und Brille aus Doppelglas zu entdecken. Ein gewisser Herr Alekseev. Verhalten guckt er etwas gegen die Fensterfront. Geheimnisvoller Ausdruck um den Mund… Mona Lisa smile…?Irgendwo mitten aus der schwarzweissen Menge kommt ein stumpfer Blick. Die überproportionierten Brillengläser, tief auf die Nase geschoben, nehmen dem älteren ergrauten Mann die menschlichen Züge. Verglaster Wissenschaftler. Belesenheit, Zerlesenheit, Müdigkeit, Vergessenheit…?Ins Auge sticht ein gewisser Dovartur, so könnte er ungefähr heissen, müsste mich dem Herrn etwas nähern, ums genau zu sehen.?Weisser Schädel, das Gesicht wird von einem schwarzen Balken, Adorno in Vollendung, in zwei Hälften geteilt.?Ach, und da ist noch ein wichtiger Stern in diesem Ensemble. Derzhavin, in ehrenamtlich vaterländischer Tracht. Links von ihm guckt ein grimmiger Troll, ein Schopenhauer mit schwarzen buschigen Augenbrauen, durch den Lehrsaal.?Kopf und lefzenartige Mundwinkel bedeckt mit weissem Pelz. Etwas aus der menschlichen Vorzeit sogar scheint in diesem Pantheon der Professorenschaft aufzutauchen.?Eine Frau mit abgründigen, schwarzen Augenringen eult richtung Professor Stefan (Name leicht geändert), der gerade bei der “Zentrierung der Struktur“ angekommen ist.?Ein sympathischer, schüchterner Mensch, der die Blicke seiner Studenten scheut. Die Mädchen schreiben seine Worte fleissig mit wie Sekretärinnen.?Wieder zieht er mit dünner Kreide einen geheimnisvoll unsichtbaren Kreis auf der Wandtafel. In der Mitte befindet sich ein kleiner Punkt, darum herum sind unsichtbare kleine Punkte. “Das Zentrum – telos, Wesen, Gott, aliteja, Transzendenz.”?Ich habe jedes Draussen vergessen. Ich starre diesen kleinen Punkt fiebrig an, pulsierend vor Hitze, und warte darauf, dass er einfach zerspringt und die Ahnenformation auseinanderwirft.?Nichts dergleichen. Ich nehme einen Schluck aus dem Tetrapack und denke an den Ananasgeschmack, der mich über die letzten zehn Minuten rettet.

May 10, 2006

Jazyki…… Sprachen……

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:15 pm

Chinesisch
Arabisch
Koreanisch
Das wäre das sprachlich exotische Sandwich auf unserer Wohnheimetage. Französisch und Deutsch, von Schweizerdeutsch brauchen wir nicht zu reden, machen dabei lediglich den Teil des Salatblatts aus. Es dominiert von der rechten Seite das Chinesisch, verdünnt sich gegen die Mitte hin etwas, wird schroff unterbrochen von rauhen arabischen Stimmen, nimmt danach wieder langsam zu und geht irgendwann für meine europäischen Ohren unhörbar ins Koreanische über. Gleich verhält es sich mit dem Essen. Die zwei Grössen sind Korean und Chinese Food. Mein russisches Poulet liegt dabei bei sogar unschweizerischem Rezept in einer dunklen Mitte zusammen mit dem französischen Paté. Das poulet à l’arabe habe ich bisher noch nicht gesehen, doch es wurden schon oft zu später Stunde weinend zu Fleisch Zwiebeln gehackt. Was und wie kocht man in der Schweiz? Natürlich wird diese Frage oft gestellt, etwa in den etwas müssigen Sprachstunden “Russisches Gespräch”, wo man plötzlich irgendwie keine Lust mehr hat auf so ein “lockeres” Gespräch und die Lehrerin, die von den verdorbenen Sitten des slavischen Heidentums einfach nicht mehr aufhören kann. Der schülerhaft beflissene Wille einen anspruchsvollen Satz zu machen, lässt das FONDUE irgendwie drollig rüberkommen: “Das ist ein Gericht aus geschmolzenem Käse, den man zur Zubereitung mit einer Holzkelle in der Form einer 8 rührt.” Im Vordergrund steht die Korrektheit und der Informationsgehalt des geformten Satzes. Doch ich koche kein Fondue und auch keine Rösti, kulinarisch eher heimatlos versuche ich es öfters à la russe oder uni-culture: russische Rüebli, Kohl (RUS), Sojaoel (KNR), Oliven (Spanien), Olivenoel (Spanien), Käse (Dänemark) etwas zu kochen und werde manchmal mit ganz guter chinesischer Suppe beschenkt.

Neues aus Petersburg oder Auf einer schlechten Party

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:13 pm

Erste Bekanntschaft mit der hiesigen Polizei, genannt Milicia. Angenehm. Klingeln um vier, hartes Klopfen um 2 nach vier, Hämmern um 3 nach vier. A., der Chozjajn (zu deutsch Mieter) öffnet um 4 nach 4, 4 Minuten zu spät, oder überhaupt überflüssigerweise, die Tür. 5 nach 4 und A. kriegt einen Schlag ins Gesicht. Alle anderen, inklusive die kerligen russischen DJs, halten sich hinter geschlossenen Türen verborgen, mucksmäuschenstill. Eine unglaubliche Ruhe, die der strengste Lehrer bei der zahmsten Schulklasse nicht hinkriegen würde. Die annähernd 80 Leute scheinen verschwunden zu sein, ihr Gegröhle, ihr betrunkenes Kichern, die spastischen Bewegungen zum eckig anonymen Elektrosound. Ich freue mich zunächst auf meinem Plätzchen in der Küche, dass mal jemand vielleicht auf die Idee gekommen ist, die Musik zu wechseln, welche dem Gesichtsausdruck nach die Leute im Griff hat. Ich ernte hie und da einen giftigen Blick von einem Mädchen, der mir den Aufenthalt in der Küche auch nicht grad gemütlicher macht. Ein Blick einer Schmollmündigen mit tiefem Decolleté, der schon Gegnerschaft auf Lebzeit ausdrückt. (So glaubte ich jedenfalls vor ein paar Wochen – nun versteht man sich nachmittags auf dem Sonnenbänkli doch bereits blendend….Frauen..) Mein Lächeln beantwortet die Schönheit mit noch grimmigeren Blick…nichts zu machen. Ich versuchte es mit einer beschwipsten Russin in geblümter Bluse und dunkelrot-metalisé lackierten Fingernägeln, die bereits alles wunderbar lustig findet. Immerhin. Wohlgesinnung. Parties dieser Art verführen zum Rauchen und Trinken. Doch mir graut vor den süssen Mädchengetränken (Vodka mit Kirschsaft), da ich nach zwei Gläsern von diesem klebrigen Zeug nicht mehr stehen kann. Aber wo war ich? Genau, wegen Ruhestörung in mehreren Fällen, hat eine etwas betagtere Nachbarin schliesslich die Milicia bestellt. Die Küchentür springt auf, alle weichen mit den Köpfen zurück. Im Türrahmen steht ein schnurrbärtiger Mann, mit kleinen roten Augen und funkelt zornig und beginnt zu lärmen. “Pasport”, “Pasport”!! Die Küchengesellschaft gerät in Bewegung und beginnt in den Taschen zu kramen. Der Schmollmund schaut noch viel ernster, mit einer gewissen dramatischen Note. Ein junger Typ, mit letzter nachpubertärer Akne und blonder Dandystirnwelle, scheint seinen Rausch vergessen zu haben und gibt plötzlich kleine Anweisungen: Pass nicht geben, nicht bezahlen, bezahlen… Ich gebe gleichgültig meine “Spravka” (provisor. Passersatz) ab, mit dem Wissen, dass ich sowieso bald den Pass vom Passbüro zurückbekomme. Am Ende kommt der Milizionär etwas ruhiger in die Küche, knallt unsere Pässe auf den Tisch und spricht plötzlich in der Erzieherrolle zu uns. Der nächtliche gefürchtete “Eindringling”, dessen zweiter Name “Unannehmlichkeiten” ist, gibt uns die Anweisungen, so spät nicht mehr so laut Musik zu hören, schliesslich lebten hier Familien mit kleinen Kindern, und überhaupt befänden wir uns in einem unglaublichen Dreck…all die Flaschen, Becher, Servietten, dreckige Pfannen, Aschenbecher (dabei haben wir noch die meisten Flaschen versteckt)…so einen Tisch dürfe man Mädchen doch nicht präsentieren, die zu Besuch seien… Schmunzeln. Ungefähr 400 Rubel konnten das Problem lösen. Die Mädchen v.a. sind übel gelaunt. Auch ich bin gereizt, weil an diesem Abend sowieso mit niemandem vernünftig zu reden ist. Mir gefällt die Party an sich überhaupt nicht, und wie wir uns endlich entschliessen doch schon mal in ein café zu gehen, werde ich von zwei beduselten Russen für eine eingeschüchterte Ente gehalten. “Warum gehst du denn schon?” Könnte ihnen doch eigentlich Schnuppe sein, schliesslich haben wir kein einziges Mal an diesem Fest miteinander gesprochen. “Hast Du Angst bekommen? Immer bekommt Ihr Ausländer gleich Angst. Bleib doch, ist ja gut jetzt.” – “Wollte sowieso gern gehen.” – “Sie hat Angst.” Naja, eben beknackte Gespräche an einer schlechten Party. “Ja gut, hatte Angst. Ich geh jetzt.” Zu fünft gehen wir ins Kofechaus, wo ich eine dicke heisse Schokolade bestelle. Wohltat auf leeren Magen. Gespräch mit nem etwas älteren Typen mit ganz vielen Goldzähnen. Sympathischer Frauenheld, etwas militärische Visage, auffallend freundlich und aufmerksam. Ein Mann, den ich als sehr autoritär einschätze. Leichter Hang zur “Ethnophobie” (mag Tataren nicht, Grund: es gibt viele). Den Ausdruck habe ich in ‘ner Vorlesung mitbekommen, seither begleitet er mich. War der angenehmste Teil des Abends, wenns auch am äussersten Ende der Zeit, Wachheit und Aufmerksamkeit stattfand. In Zukunft werde ich mich doch wieder auf das Bauchgefühl verlassen und bei geringer Lust auf Parties doch lieber zuhause ein Buch aufschlagen.Dabeisein ist manchmal nicht immer alles….aber doch gut, auch das gesehen zu haben ; )

Gorod

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:12 pm

Spaziergang – entlang den Rohbauten. Weisser Himmel über Schnee. Es ist die Zeit der Maslenica, Frühlingsfest, und in den Vogelnestern häuft sich der Schnee. Alles ist rauh. Die Luft, der Atem, die Haut und die körnigen Fassaden der Wohnblocks, die, ähnlich leeren Schachteln, an einer aufgelösten Strasse Spalier stehen. Sie sind da bloss und laden nicht ein, doch eine eigene, heimlichtuerische Geschäftigkeit herrscht hinter diesen Schmiergelpapierwänden. Kleine Holzhütten, aufgefüllt mit buntem Gemüse und Obst, säumen die Füsse der traurigen Giganten. Von dort drüben schaut ein düsterer Rohbau mit grossen schwarzen Augen herüber. Irgendwoher, wie ein neuer Wind, weht eine klassische Musik durch diese Welt und prallt von einer Wand an die andere und erreicht mich in kleinen Splittern. Unter meinen Füssen schwappt ein grauer nasser Schnee. Es dauert noch, bis der Frühling kommt. Resigniert wandern Leute zum Meerbusen, geschultert das Kreuz der Skier. Von weit höre ich ein Lachen. Unter langen Arkaden aus Beton spielt ein alter Mann Harmonika – und wie. Traurig schön.
Ich gehe und gehe. Die Welt wird für einen Augenblick weiss. Oben und unten ist es gleich. Der Stadthorizont teilt Himmel und Erde. Einssein mit dieser Stadt. Ich schliesse die Augen und sehe sie: ihre Gesichter, ihre Bewegung – in mir. Ich geh nicht durch die Stadt, ich geh durch mich, oder geht die Stadt durch mich? Winterbäumchen krümmen sich stiller Verneigung.

Fluchen

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:09 pm

Entdeckung des unanständigen Vokabulars – endlich
Nicht unwichtig ist hier , finde ich, das “herzhafte” Fluchen zu verstehen. Geflucht wird zu Freude, Frust und Leid. Unterrichtet wird das sozusagen auf der Strasse. Doch wenn man mit jemandem unterwegs ist, und danach fragt, was das für ein hingesprühtes Wort ist, bekommt man selten eine direkte Antwort. Meistens heisst es beschützerhaft: “Sowas sollst du gar nicht hören.” Nur, man hört es eben doch ständig… manchmal lauthals, manchmal kleinlaut in einem Nebensatz. In der Leksikologia haben wir das Thema gestreift, dabei hat uns die Dozentin Natalia einen Slovar’ (Wörterbuch) empfohlen, der 2004 erschienen ist und diese überaus “lebendige” Sprache festzuhalten versucht. Dass Lehrer damit sehr vorsichtig und gewissenhaft umgehen gegenüber ihren ausländischen Studierenden, ist nur verständlich. Ich wüsste auch nicht, was ich uncharmanter fände als einen in gebrochenem Schweizerdeutsch fluchenden Austauschstudenten. Wenn fluchen, dann so richtig. Andernfalls entpuppt man sich eher als peinlicher Tourist, der sich solche kleine bunte Wörterbüchlein kauft, um Bier, Frauen und Taxi zu bestellen. Um mich im Grossstadtstimmengewirr zurechtzufinden, um die kleinen Situationen im Streifzug durch die Stadt besser mitzubekommen, den familiären Streit um das Fernsehgerät durch das Wohnzimmerfenster, um mir auch ja nichts entgehen zu lassen an dieser Stadt, darum möchte ich das Fluchen lernen, wenn auch ohne persönlche Verwendung. Verstehen. Damit ich mich einmal an all das erinnern kann. Vsjakoe znanie – vospominanie. (Alles Wissen ist Erinnerung.)

21.März 2006

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:07 pm

Es ist wieder ein Tag
Ich weiss nicht, wie um alles in der Welt ich es schaffen soll, all das zu lesen, was ich vorhabe. An jeder Ecke hält mich hier etwas Neues auf. Jeder Tag ist hier buchstäblich ein neuer. U n w i e d e r h o l b a r . Es wird Nacht, es wird morgen. Es geht so schnell und ruckartig, wie die Fahrt heute in der Marschrutka, schnell, stockend, schnell und dann plötzlich Stillstand mitten auf der Kreuzung, eingeklemmt zwischen Schwärmen von Fahrzeugen und Menschen. Tür auf, raus, rennen, und hüpfen zum schönen Wetter, in die Stunde “Russischer Brief”. Unterwegs, aber innerlich manchmal immer noch auf der ersten Seite eines riesigen aufgeschlagenen Buches. Zdravstvujte devocki, singt mir Viktor Zoj aus der Vergangenheit (oder woher?) zu. Ein Sänger, der hier mal viel in den jungen Seelen bewirkt haben muss, jedenfalls hat er stets Besuch bei sich am Grab, so wurde es mir zugetragen: “Vosmiklassica…mmh…mmh” (Achtklässlerin). Und er kanns immer noch. Musik hält die Zeit an. Die Buchseiten falten sich zu Tauben, fliegen davon.

11.März 2006

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 11:05 pm

Es ist Samstag Morgen in der Stadt. Die Sonne scheint, es ist eiskalt. Die Pelze werden wieder aus den Schränken geholt, und Bären wandern durch die Strassen. Man sieht die Menschen atmen. Tausend kleine Kraftwerke. Man trinkt Bier bei minus 16 Grad. Der Geruch von Lippenstift, Bier und Lederjacken hängt müssig am Eingang der Metrostation und verschluckt jeden, der hineintritt mit einem warmen, ekligen „Gluck”. Bunt sind die kleinen Lavki, die kleinen Läden, hinter deren Scheiben Kohlköpfe, knallige Orangen und grüne Äpfel in geometrisch linearer Anordnung präsentiert werden. Ich denke an das bunte Mathematikbuch, 1. Klasse: Ich habe 3 Birnen und 2 Bananen sowie 5 Kirschen und 7 Bananen, bestimme die Schnittmenge. Die Verkäuferin trägt eine grüne Schürze. Durch die kleine Fensteröffnung sind oft nur ihre geröteten Hände zu sehen, und schnell werden die zerknautschten Nötchen ausgetauscht. Ein Verkäuferliladen in der Grossstadt.

April 20, 2005

Zurück

Filed under: St. Petersburg 2005 — sarah @ 9:14 am

Jetzt bin ich seit über einer Woche zurück. Der neue Papst ist bereits gewählt, und ich bin wieder im Unileben. Vielleicht schreibe ich dies einfach noch abschliessend, um den Einträgen ein Ende zu setzen.
Der Abschied war zum Glück nicht ein “russischer” (lang und tränenreich – Achtung Cliché, Cliché!!!), sondern Tatjana, Galina und Petja brachten mich zur Metro (vorher setzten wir uns alle noch hin und schwiegen ein paar Sekunden – das macht man oft so). Beim Metroeingang traf ich Kirill und seinen Freund Ljocha, die mit mir zum Flughafen fuhren. Ich brauchte auch wirklich Hilfe mit all dem Gepäck.
Ich habe allerhand eingekauft, mitunter auch zml Idiotisches … Aber eben, man will sich doch erinnern.
Der Flug ging bis Prag, dort hatte ich nur noch zehn Umsteigeminuten. Ich plante schon eine Übernachtung ein, doch der Weiterflug hatte auch Verspätung. War zml Stress mit der schweren Reisetasche durch den Flughafen zu rennen. Im Flugzeug nach Zürich hörte ich die ersten schweizer Kommentare: ” Gopfeteli, das huere Teil isch so schwer.. Lupfs mal ufe… Das bringe mer nöd obenine!”
Ich gebe zu – ein kleines Zusammenzucken ; ).
Nun ja, und in Zürich wartete man auf mich in freudigst, mit Blumen… Was will ich mehr!?
Einen Kulturschock erlebt man allerdings schon. Ich denke, alle, die irgendwohin reisten, können das nachempfinden. Ich vermisse bereits die Metro, das ist irgendwie eine Welt für sich dort unten.
Geschmacksache, könnte man sagen. Ich bin jetzt wieder auf Tram umgestiegen und muss sagen, dass auch das ganz klasse ist. Den ganzen langen Sonntag z.B. durch Zürich gegondelt zu werden…. Da soll einer sagen, dass Zürich eine stressige Stadt sei!

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