November 26, 2009

Mandelstadt

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 12:44 pm

In der dünnen russischen Winterluft findet die Schwalbe im Flug keine Nahrung. Ihre Lieder werden zu fallendem Eis und zerplatzen stumm wie Feinglaus auf der Erde. Die Schwalbe flieht den Norden und den Schwarm, krallt die Schwalbenfüsse in warme süditalienische Erde und schlägt Wurzeln in Neapolis, der Stadt der Granita a Mandorla, süss, theatralisch, mit offenen Geheimnissen. «Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein», die schwachen Lungenflügel schlagend. Das war damals, als das Luftholen auch im Stadtzentrum Wohltat war. Heute verdichtet sich Lärm und ätzender Gestank der Vespen zu Schwindel und einem eigentümlichen Krampf oberhalb der Nasenwurzel. So, dass man fürchtet, dass einem noch der letzte Gedanke an vergangenen Traum herausgerissen wird. In einem Traum habe ich dich nämlich in Neapel gesehen. Ich habe die Statuen, die Aggrippina im Museum gefragt, ob sie dich auch gesehen haben. Es scheint, sie können sich nicht recht an dich erinnern, aber selbst eines blaugelb gekleideten Dichters mit Aquarellblock können sie sich nicht mehr entsinnen. Vieles rauscht an diesem glatten, geschliffenen Marmor vorbei. Im Traum zumindest habe ich dich in Neapel gesehen. Du warst zum Neapolitaner mit Knollennase geworden. Du hast dich sichtlich hier niedergelassen: Nichts mehr zu sehen von deiner Flüchtigkeit. Du verlagerst nur noch deine körperlichen Schwerpunkte – aus der kleinen Dichterwohnung in die Bar um die Ecke, wo all die anderen Männer sitzen. Von der Parkbank rauchend auf die Schwelle eines Ladeneingangs. Vielleicht lauschst du Caruso, der das goldene Horn des Grammophons in Schwingung versetzt und das Kätzchen auf der Wolldecke weckt. Ein mürrischer und etwas selbstzufriedener Stadtpoet bist du vielleicht geworden. Du wiegst schwer irgendwo zwischen Nord- und Südpol und denkst vielleicht an den Norden. An hier unbekannte Farben, an ein weit entferntes Blauweiss. Ich sah dich an der Theke einer Bar mit Männern im Bass plaudern. Pulcinella plaudert hier schamlos in beliebiger Gesellschaft deine Geheimnisse aus. Er gibt sie den Bienen und den Tauben mit. Deine Geheimnisse sind scharfe Honigbisse zuckersatter Bienen, die um die Granita schwirren. Die graublauen Tauben breiten deine Geheimnisse schimmernd auf ihren Fächern aus und fächeln dabei Lüftchen. Hier brauchst du deinen Mantel nicht, das warme Tier. Federn reichen. Ein Flug aus dem Mantel- ins Mandelland, Mandel‘stam.

January 9, 2009

Nach alten Leuten googeln

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 12:22 am

Obwohl ich gerade aufbrechen möchte, beschäftigt mich ein kleines Kartonpaket, das vis-à-vis von mir auf dem Tisch steht. Ich bin soeben von der Post zurückgekehrt, wo mir dieses zehn auf zwanzig flächige und 15 cm hohe Päckchen abgegeben wurde. Ich hatte 6 Franken zu bezahlen, denn es handelt sich um eine Rücksendung. Ich kenne das Päckchen natürlich. Am 23. Dezember ging ich in die überfüllte, von Geschenken angereicherte, Bahnhofspost, um jemandem, der weit weg ist eine Freude zu machen. Und schickte das kleine Schachtelchen mit besten Wünschen und der Hoffnung, dass es ankommt, ab. Weit weg ist eigentlich nicht ganz richtig. Das Paket reiste nur bis nach Zürich und prallte an der Tür eines Stadthauses im Kreis 7 anscheinend ab. Die Entfernung in einem kleinen Land ist selten der Raum, sondern vielmehr die Zeit. Mindestens 50 Jahre trennen mich von dem “Empfänger” gemäss Alter und 4 Jahre im Nicht-mehr-wissen voneinander. Insgesamt haben wir uns 2 Jahre nicht gesehen und  zwanzig Jahre nicht gekannt.

Jetzt steht diese – beinahe hätte ich geschrieben “Person vor mir” – Rücksendung vor mir. Vollgeklebt mit Adressen, Barcodes, Postklebern, lauter Informationen – ein einziges Fragezeichen. Wo kann sie sein, diese ältere Dame und ihre Freundin, an die ich vielleicht mit kleinen stichelnden Schuldgefühlen dachte. Die Antwort auf meine Sendung: Ich bin nicht mehr da.

Natürlich habe ich mich zuerst im TwixTel, im TelSearch, auf der Seite des  gemeinnützigen Frauenvereins erkundigt. Da ich ihren Namen aber nirgends finden konnte, versuchte ich es einfach auf gut Glück an die mir bekannte Adresse. Ihre Freundin und Nachbarin im oberen Stock war oder ist ja auch noch da? Google ich jetzt ihren Namen, stosse ich auf eine Homöopathin in Augsburg (ich denk die wahre *, die ich suche, war doch eher eine Besucherin des gewöhnlichen Hausarztes). Ein weiterer Eintrag ist der eines feschen gleichnamigen Mädels aus der Steiermark, das aus ähnlicher Motivation wie ich bei StayFriends aktiv ist. Ansonsten Einträge im Moneyhouse. Beim Gedanken, die beiden im Moneyhouse anzutreffen, muss ich etwas lachen. Vielleicht führen die beiden ihren eigenen erfolgreichen Frauenverein mittlerweile? Der Gedanke ist tröstlich. Befreundet, sozusagen, eigentlich eher benachbart und sozialisiert waren wir zusammen im no-money-house, im Hafen für pensionierte, ausgediente Hausmädchen, altledige Damen und blauäugige groschenlose Studentinnen, die Zürich für den Windkanal in die gloriose Zukunft hielten. Wir nannten es “das Kloster”. Schwester Sarah und Schwester Monika sowie ihre zukunftsträchtigen Freundinnen und die  älteren Schwestern Frau Güfeli (ehemaliges Hausmädchen und Fast-Familienmitglied), Frau Gräser (ehemalige Psychiatrieschwester), Frau Gruberova (ehemalige Angestellte, sehr belesen, irgendwie die Ingeborg Bachmann im hohen Alter und versteckt hinter grossen 70Jahre-Sonnenbrillengläsern). Und viele mehr. Suche ich namentlich nach einer dieser älteren Nachbarinnen, finde ich einen Facebook-Eintrag:  “ist bei einem sozialen Netzwerkprogramm, das Menschen mit Freunden und anderen verbindet”. Doch diese Dame, die mich anstrahlt, ist keine Bewohnerin des no-money-house! Soziales Netzwerk … Findet man denn immer die, die man wirklich sucht? Suche ich Miss Facebook 2008? Zufälligerweise kenne ich sie sogar. Ich geb zu, das war die letzte Person, nach der ich gesucht hätte. Da stosse ich täglich auf Leute, die wollen, dass man sie kennt, erkennt und wieder sucht. Oft erfülle ich natürlich solche narzisstischen Wünsche. Darum, bitte, ich suche einmal jemanden, der sich keiner virtuellen Community eingeschrieben hat und ganz schüchtern selbst die physische Community betrat. Spucks doch aus, du allwissendes Google.

Ich klappere auf der Tastatur. Ich fühl mich von diesem Paket herausgefordert. “Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden” kann ich nachvollziehen, doch “keine Einträge zu dieser Person gefunden”, “diese Person existiert nicht”, “gibt es nicht” lass ich nicht so gelten.

Diese Frauen haben kaum den Stadtraum betreten, denn jeder Schritt kostete sie zuviel. Jüngere Leute, die ebensowenig ihren physischen Lebensraum wahrnehmen wie die Schwestern, die findet man hier meistens im Internet. Die haben sich wenigstens dafür entschieden zuhause unterwegs zu sein. Ob die älteren Schwestern jemals im Internet waren? Vielleicht haben sie sich mit einem jüngeren Bild getarnt oder sind diejenigen, die sich hinter einem der rätselhaften low profiles verstecken?

Ich mache einen Test: Ich google meinen Grosspapi, der ein fleissiger Internetbenutzer ist. Und – ich bin natürlich enttäuscht. Kein einziger Eintrag! Dabei war mein Grosspapi Jahrzehnte, und ich mach mich nicht etwa lustig, im Samariterverein und spendete über zwanzig Jahre gewissenhaft sein Blut. Die älteren Leute suchen im Internet Informationen, keine Freunde, sagt er mir erklärend, denn Freunde habe man schon oder finde nun auch keine mehr.

Ich kann den Schwestern in Zürich kein einfaches unkompliziertes Pixelgeschenk machen, das ich bei Facebook oder StayFriends poste. Es geht nur per Schachtel und Reise durch den Raum, vor die Tür, per Knopfdruck durch die Hausklingel. Natürlich brauchts da mehr als ein “Willst du meine Freundin sein” zu einer Bekannten, die man nie trifft und die man wohl nie im Leben einfach so mal aufsuchen würde. Denn was sagst du an der Tür? – Ich habe eben gerade an dich gedacht, und ich so fuhr ich zu dir (mit dem Hintergrund, dass man sich 6 Jahre nicht mehr gesehen hat und an der Schule abundzu, wenns gut kam, ein paar Mal zusammen in der Mensa war – doch genau die, ja die!, wollen ja alle deine Freundinnen sein! Keine Ahnung wieso. “Christiane F. has got 1188 friends”…)

Ja, warum wollte ich ein Geschenk an jemanden schicken, den ich nie sehe, und selbst wenn ich in Zürich bin, bin ich ehrlich, nicht unbedingt mit überzeugter Vorliebe aufsuchen würde? Das fragt mich das Paket. Und schüttelt sich vor Lachen. Wollte ich ein Gutmensch sein zu Weihnachten? Mich doch mal melden nach zig Jahren, mit der Erwartung, dass sie ja eine solche Freude hätten eine Überraschung zu erhalten, ein sich-an-sie-erinnern? 

Meine Erinnerung verliert ihre Referenz. Zurück kam nur die Schachtel. Das kann jedem passieren. So wirklich wie die Postschachtel, so steht in Zürich das no-money-house. Ich gehe hin und drücke auf den alten Türknopf: enter oder – ich mache ein post-it: Bitte übergeben Sie dieses Paket Frau * und *. Falls dies nicht möglich sein sollte, teilen Sie das Paket untereinander auf. Herzliche Grüsse an alle Schwestern, Sarah Müller.

February 4, 2008

Neulich im Zug

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 8:47 pm

Es war ein Sonntagabend. Ich bestieg am HB Zürich den Schnellzug nach Bern. Ich überlegte etwas länger als sonst, ob ich oben oder unten sitzten sollte und nahm schliesslich neben der Gepäckablage in einem Viererabteil platz. Etwas lustlos nahm ich mein Buch hervor und begann etwas darin zu lesen, als plötzlich drei junge Männer ins Abteil kamen und sich etwas unsicher zu mir setzen und dann doch rücksichtsvoll auf mein und eine anderes Sitzabteil aufteilen wollten. Ich sagte ihnen, sie können ruhig zusammen neben mir sitzen, es würde mich nicht stören. Sie sprachen in einer fremden Sprache. Ich hielt sie für Zentralasiaten, konnte aber ihre Sprache keinem mir dort bekannten Land zuordnen. Zu dieser Zeit dachte ich schon längst nicht mehr an die Zeilen in meinem Buch und klappte es daher auch bald einmal zu. Der, welcher gegenüber von mir sass, las murmelnd einen Text. Er hatte einen pakistanischen Basmatireissack dabei. Das machte mich schmunzeln, weil ich auch mal überlegt hatte den als Tasche zu verwenden. Irgendwann dann müssen wir ins Gespräch gekommen sein. Ich fragte sie, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Es sei Farsi, denn sie seien aus dem Iran bzw. einer aus dem türkischen Grenzgebiet zum Iran. Wir unterhielten uns also etwas über den Iran. Ich kenne viele Leute, die kürzlich dort gewesen waren, einschliesslich mein Freund, und interessiere mich generell für diese Region. Ich erzählte, wo ich in letzter Zeit so gewesen bin, dass ich auf dem Rückweg aus Georgien in der Türkei gewesen war. Deshalb fragte ich, von wo der eine genau stamme, ob er in der Nähe von Kars aufgewachsen sei. Eigenartigerweise kannte er Kars nicht, was mich sehr erstaunte, zumal er sich als Kurde ausgab. Dass er nicht wie ein Kurde aussah, schwante mir , aber man gibt sich meistens nicht ungläubig, wenn jemand seine Volkszugehörigkeit verrät. Es kam mir manchmal vor, als ob sie mir geschickt in gewissen Fragen auswichen, gerade dann, wenn ich wissen wollte, wo sie denn studiert hatten und wie die Lage denn früher gewesen war und wie sie heute aussieht. Die Unterhaltung war natürlich an und für sich sehr nett , sonst hätten wir auch gar nicht soviel reden können, denn die Zeit verstrich im Eilzug. Die drei jungen Männer waren sehr sympathisch und v.a. höflich. Offensichtlich weilen sie noch nicht so lange in der Schweiz. Ich schien eine der ersten Personen zu sein, mit denen sie sich ausführlicher unterhielten. Die Unterhaltung war eigentlich nur mit einem der drei in Englisch möglich, und dieser übersetzte jeweils seinen Freunden. Der andere konnte schon etwas Deutsch. Sie waren offensichtlich auch noch etwas unsicher, wie sie sich mit einer Frau unterhalten sollen. Ganz offen meinte einer von ihnen: “Entschuldige, wenn ich dich beim Reden noch nicht anschaue, das ist für uns noch so ungewohnt. Aber ich gebe mir Mühe das zu lernen.” Da musste ich schon ziemlich lachen. Wir kamen auf die momentane politische Lage im Iran zu sprechen, auf Amerika und natürlich Afghanistan und Irak. Als ich Afghanistan sehr bedauerte und vor allem den Untergang einer ganzen Kultur, stellte ich fest, wie alle drei mich gebannt anschauten. Ich fand, es sei traurig, dass Afghanistan oftmals fälschlicherweise mit Terrorismus in Verbindung gebracht und das Land als solches mit seiner ehemals sehr säkulären Kultur beinahe vergessen werde. Der, welcher sich als Kurde ausgegeben hatte, schaute mich an, sagte merkwürdig beherzt: “Bravo, dasselbe fühlen wir auch.” Naja, meinte ich, so würden viele andere Menschen hier eigentlich auch denken. Dann meinte er, sie müssten mir etwas gestehen. Sie hätten mich angelogen. Sie seien gar keine Iraner bzw. Kurden, sondern Afghanen. Natürlich war ich ganz konsterniert. Zuerst musste ich lachen, weil irgendwas bei der ganzen Unterhaltung ja nicht reingepasst und es zuviele Ungereimtheiten gegeben hatte. Dann fragte ich sie, warum sie sich denn als Iraner ausgeben. Als Afghane habe man doch einen eher schlechten Ruf. Erst kürzlich habe man ihn als “Tourist” beschimpft. Ich muss wie ein Fragezeichen im Raum gestanden haben. “Was ist denn in der Schweiz bitteschön schlimm daran Tourist zu sein?” Auf diese Frage schauten sie mich wiederum mit grossen Augen an. Es ging noch eine Weile so hin- und her, bis ich zuguterletzt verstand, was sie mit dem absurden “Touristen” meinten. Terrorist. Ich glaube man wird mir doch hier zustimmen, dass es sich also um einen sehr tumben, sogar vernachlässigbaren Schweizer gehandelt haben muss, welcher ihn aufgrund des “Afghanentums” als Terroristen beschimpfte. Ebenso hoffe ich, dass meine Behauptung, dass viele Schweizer über einen etwas differenzierteren Blick und ein etwas sensibleres Verhalten verfügen, wahr ist. Auch das kann angezweifelt werden. Ich konnte es kaum glauben, dass drei Afghanen vor mir sassen und sich allen Ernstes aus Vorsicht als Iraner ausgaben, weil Farsi ihrer Landessprache Dari ja ganz nahe steht. Ist das wirklich die Möglichkeit? Oder war das auch eine Geschichte? Die Begegnung wirkte dennoch rührend. Sie entschuldigten sich tausendmal dafür, dass sie mir nicht von Anfang an die Wahrheit erzählt hatten. Sie hätten ja nicht ahnen können… und so weiter. Der, welcher sich als Kurde ausgab, war schliesslich ein Hazara, ein Angehöriger einer Minderheitengruppe in Afghanistan. Ich insistierte etwas naiv, dass momentan der Film “The Kite Runner” in den Kinos gezeigt werde, in dem es unter anderem um einen Hazara-Jungen gehe. So quasi: So ganz egal ist uns euer Land auch wieder nicht. Der Name des Buchautoren Khaled Housseini schien in ihm zwar eine Erinnerung zu wecken, doch ich erfuhr nicht mehr, ob er die Geschichte kannte. Wir fuhren in Bern ein.Wir verabschiedeten uns auf dem Bahnsteig. Das war eine kurzweilige Fahrt der unglaublichen Geschichten.

Im Schwimmbad

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 7:51 pm

Während der Sommermonate habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, während des Verfassens von Semesterarbeiten oder überhaupt während intensiver Lernphasen ins Freibad zu gehen und meinen Körper im Wasser abstrampeln zu lassen. Dazu hat das an frühen Nachmittagen so stille Wylerbad seine eigene kleine Poesie. Ein feiner Windhauch kräuselt die glatte Wasseroberfläche, welche zwei Rentnerinnen und ich in gleichmässigem Rhythmus schweigend durchpflügen. Danach legt man sich auf den heissen Stein und lässt sich von einer einzelnen Ameise die Wade kitzeln. Immer wieder sieht man dieselben Gesichter, meine Lieblingsdame mit der Taucherbrille, die genüsslich hin- und herplanscht, den Mann, der ausgestreckt am Beckenrand den ganzen Tag der Sonne frönt.?Jetzt im Winter ist es irgendwie anders im gedeckten Hallenbad. Der Chlorgeruch ist etwas streng, und die Hektik im Becken am frühen Abend erinnert an den Abendverkehr. Es ist immer interessant, während des Schwimmens das Geschehen zu beobachten. Ich habe deshalb bis jetzt noch nicht die Schwimmbrille ausprobiert. Da fällt mir immer wieder der Mann in den Mitvierzigern hinter seiner Schachzeitschrift auf. Abundzu scheint er ganz vertieft zu sein in einen Schachzug, später beobachtet er längere Zeit den kräftigen Schwimmzug einer Dame.
An manchen Tagen kommen sogar die Synchronschwimmerinnen, die zu lauter Musik ruckartig und mit angespannten Gliedern ihre Wasserakrobatik im Gleichtakt üben. Ich schwimme in der Bahn für “Kreisschwimmer” und werde immer wieder von zwei tätowierten Wundern überholt, die ganz ergeben wie zwei Fische durchs Wasser tauchen. Obwohl man wesentlich weniger freizeitlichen Charme empfindet als im Freibad, ist das Hallenbad trotzdem nicht nur Sport-, sondern auch ein bisschen Schauplatz.

Ferien in der Schweiz

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 7:12 pm

Seit Weihnachten weile ich wieder in unserem Land und mache eigentlich Ferien. Ein bisschen Melancholie hat mich seit meiner Rückkehr aus Georgien immer wieder befallen, denn es liegt auf der Hand, mein Semester beginnt am 18. Februar erst wieder. Somit hatte ich genug Zeit nachzudenken, nötige Literatur zu wälzen, Sprachen zu repetieren und neue Musik zu hören, Filme zu schauen, Zeitung zu lesen, das Büro namens “Schweizer Leben” aufzuräumen. In Georgien durchquerte ich so oft die Stadt, durchfuhr mehrere Räume, landete in kleinen verrauchten Zimmern, suchte eine Türe, fuhr als wärs ans Ende der Welt, steckte eingeklemmt zwischen Einkaufstüten tief im Stau an einem gottvergessenen Ende der Stadt… Hier sitze ich stundenlang am selben Fleck, schau aus meinem Küchenfenster in die Allee. Ich kenne alle Farben des Himmels. Ich warte und dabei lese und lerne ich. Ich warte auf emails, die mir Erfreuliches verkünden, ich warte auf eine Stimme aus dem Telefon “Frau Müller, ja Sie haben die Stelle! Gratuliere!” oder die Anrede “Sehr geehrte Frau Müller, es freut uns Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Antrag auf ein Studiendarlehen angenommen wurde”, “ja, du hast die Assistenz an unserem Theater” etc., etc….
Ich stelle Anträge, um Anträge zu stellen und frage mich dabei kaffeetrinkend, wo ich denn da wieder hineingeraten bin, warum es schwierig ist, hier still zu sitzen. Gleichzeitig der Eindruck, dass wahre freie Zeit und das bedeutet wahres Nichtstun, Stillsitzen in diesem Land ganz abwegig wirken. Keiner sitzt einfach nur da und schaut einfach zu. Doch, manchmal sehe ich Männer, die das tun. Sitzen und schauen. Das will ich auch. Mit königlicher Musse einer Marie-Antoinette (vielleicht besser ohne Kaufrausch) will ich mich durch diesen Schweizer Park begeben:  die Allee vor meinem Fenster, stundenlanges Schwimmen im Hallenbad, das Glitzern auf dem Thunersee, und scheinbar befreiende Zugfahrten innerhalb dieses schweizerisch perfekt zurechtgestutzten Versailles.

March 17, 2007

wlan – geschichten von zuhause

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 1:52 am

wieder einmal zuhause. thema heute wlan, in das ich mich zum ersten mal feierlich mit sechzehnstelligem passwort, extra feinsäuberlich ausgedruckt und ausgeschnitten, in die andere “welt” einloggen durfte. reto stand rechts hinter mir wie bei der katholischen firmung, legte allerdings nicht väterlich die hand auf die schulter. ein initiationsritus scheint die sache jedenfalls fast wert zu sein;). meine mutter zeigt sich von alldem eher unbeeindruckt. auf retos begeistertes “ich habe sarah grad dein foto geschickt!” (sarah liegt bloggend im nebenzimmer), fragt sie eher abwesend “mhm. elektronisch, oder?” in unserer wg habe ich wlan installiert, und ich gebe zu ich hüpfte anfangs auch freudig herum, als ich auch in der küche neben der kaffeemaschine in ein unsichtbares netzwerk hineingeraten konnte. mittlerweile hat sich der begeisterungsstrom etwas gesenkt, und habe dafür überlegen ein müdes lächeln übrig. die initiation wurde gefeiert mit einer flasche portugiesischem rosé in einer merkwürdig runden flasche, und ich grübelte eher über einen austritt aus der röm-kath. kirche nach, ob ich dann noch einfach christin bleiben könnte oder eher zu einer anderen partei übergehe, sprich protestantisch werde und somit relativ effektlos gegen den papst protestiere…oder den totalen turn einschlagen soll und buddhistin werden soll, damit das leben vielleicht leichter wird und man einfach immer sagen kann: zum glück bin ich buddhistin. liebe verwandte, die ihr nun meinen blog lest, dies ist eine unzensurierte seite, da ich bekanntlich für freie meinungsäusserung bin.  jedenfalls wurde dieser  exmatrikulationswunsch von der  wlan -initiation  feierlich  unterbrochen. jetzt ist bald 1h, und man fühlt richtig, dass in jedem zimmer die bildschirme flimmern. es ist zeit sich zu verabschieden und das weltweite netz am wochenende einfach mal netz sein zu lassen und nen schönen spaziergang durch die stadt zu machen.

March 4, 2007

spaziergang zur kahlen lichtung durch einen buchenwald (ein ausflug von erfurt)

Filed under: Texte eines irdischen Alltags — sarah @ 11:32 pm

das wetter verhiess den frühling, als wir mit dem bus von weimar richtung ettersberg fuhren. an einem scheideweg stiegen wir aus und begannen unser hitch-hiking. wir liefen auf einer blutstrasse. rot waren jedoch einzig meine fingernägel, alles andere war grau, die sonne verblasste hinter dichten wolken zu sengendem weiss. es roch nach strasse und feuchtem holz. der wind erhob sich geräuschvoll zwischen den erst knospenden buchen. wir unterhalten uns oder schweigen auch. das schweigen macht empfindungen platz: der geschmack von asphalt, das kratzen von asphalt auf den zähnen, blut, die zunge in einem gewehrlauf…. ein auto hielt. ein etwas älteres ehepaar nahm uns mit. wir überbrückten die strecke von 1933-1939, die blutstrasse. “Jewöihnlisch fahr isch hierher in die Pilz. Man kann hier wunderbor Pilze sammeln. Ansonsten kenn isch mir da gar nisch sou eus, gei Mutter?” das nette paar setzte uns auf der grossen lichtung vor dem ehemaligen kz buchenwald ab. das jugendstilgittertor verspricht “jedem das seine”, geflügelte worte für menschen mit abgeschnittenen flügeln. die eigenen schritte waren zu laut, hörten sich an wie zielgerichtete schritte in schaftstiefeln. die blicke in die zellen machten uns zu spähern. man wollte sich auf eine pritsche setzen, die fotografie von lagerinsasse nummer 0815 umarmen und eine zigarette mit ihr rauchen. ein leerer appellplatz, dahinter noch einige verbliebene anlagen.die desinfektionsanlage, die genickschussanlage. ich vermied die fotografien: before and after: junge landmädchen mit langem dichtem, schwarzen haar, einem verschüchterten blick, junge landmädchen ohne haar, mit nummer, ohne blick, die sich bald wie ihre akten in einer ecke stapelten. ich sah listen und listen über listen, befehlschreiben über befehlsschreiben von befehlshabern von befehlshabern von befehlshabern. eine riesige bürokratie öffnete stöhnend ihre aktenschränke, liess ihre nummern für ein paar augenblicke spielen. menschen tanzten als bunte symbole und zahlen ihren totentanz, ihr name eine zahl, ihre bedeutung ein symbol. flinke seifensaubere hände blättern durch diese listen von listen und verwalten 0815 bis zu seinem kleinsten goldzahn, bis zu seinem letzten getragenen kleid, und sei es die haut, das irgendwohin über irgendeine grenze geschickt wird: “kleidung von insasse 0815. gebraucht.” eine schreibmaschinenzeile schiesst in gotischen lettern: freileiche. ein wort tötet. ein buchstabe hat die kraft einer gewehrkugel. die schreibmaschine – hermes, todesbringerin. wenns denn so sauber ginge… buchenwald führte in die untersten etagen, ins untergeschoss, wo die abstrakten zahlen und symbole form annahmen in tausenden von nackten…  Nie wieder dorthin! – oder vielleicht doch? Um Pilze zu sammeln?