Nach alten Leuten googeln
Obwohl ich gerade aufbrechen möchte, beschäftigt mich ein kleines Kartonpaket, das vis-à-vis von mir auf dem Tisch steht. Ich bin soeben von der Post zurückgekehrt, wo mir dieses zehn auf zwanzig flächige und 15 cm hohe Päckchen abgegeben wurde. Ich hatte 6 Franken zu bezahlen, denn es handelt sich um eine Rücksendung. Ich kenne das Päckchen natürlich. Am 23. Dezember ging ich in die überfüllte, von Geschenken angereicherte, Bahnhofspost, um jemandem, der weit weg ist eine Freude zu machen. Und schickte das kleine Schachtelchen mit besten Wünschen und der Hoffnung, dass es ankommt, ab. Weit weg ist eigentlich nicht ganz richtig. Das Paket reiste nur bis nach Zürich und prallte an der Tür eines Stadthauses im Kreis 7 anscheinend ab. Die Entfernung in einem kleinen Land ist selten der Raum, sondern vielmehr die Zeit. Mindestens 50 Jahre trennen mich von dem “Empfänger” gemäss Alter und 4 Jahre im Nicht-mehr-wissen voneinander. Insgesamt haben wir uns 2 Jahre nicht gesehen und zwanzig Jahre nicht gekannt.
Jetzt steht diese – beinahe hätte ich geschrieben “Person vor mir” – Rücksendung vor mir. Vollgeklebt mit Adressen, Barcodes, Postklebern, lauter Informationen – ein einziges Fragezeichen. Wo kann sie sein, diese ältere Dame und ihre Freundin, an die ich vielleicht mit kleinen stichelnden Schuldgefühlen dachte. Die Antwort auf meine Sendung: Ich bin nicht mehr da.
Natürlich habe ich mich zuerst im TwixTel, im TelSearch, auf der Seite des gemeinnützigen Frauenvereins erkundigt. Da ich ihren Namen aber nirgends finden konnte, versuchte ich es einfach auf gut Glück an die mir bekannte Adresse. Ihre Freundin und Nachbarin im oberen Stock war oder ist ja auch noch da? Google ich jetzt ihren Namen, stosse ich auf eine Homöopathin in Augsburg (ich denk die wahre *, die ich suche, war doch eher eine Besucherin des gewöhnlichen Hausarztes). Ein weiterer Eintrag ist der eines feschen gleichnamigen Mädels aus der Steiermark, das aus ähnlicher Motivation wie ich bei StayFriends aktiv ist. Ansonsten Einträge im Moneyhouse. Beim Gedanken, die beiden im Moneyhouse anzutreffen, muss ich etwas lachen. Vielleicht führen die beiden ihren eigenen erfolgreichen Frauenverein mittlerweile? Der Gedanke ist tröstlich. Befreundet, sozusagen, eigentlich eher benachbart und sozialisiert waren wir zusammen im no-money-house, im Hafen für pensionierte, ausgediente Hausmädchen, altledige Damen und blauäugige groschenlose Studentinnen, die Zürich für den Windkanal in die gloriose Zukunft hielten. Wir nannten es “das Kloster”. Schwester Sarah und Schwester Monika sowie ihre zukunftsträchtigen Freundinnen und die älteren Schwestern Frau Güfeli (ehemaliges Hausmädchen und Fast-Familienmitglied), Frau Gräser (ehemalige Psychiatrieschwester), Frau Gruberova (ehemalige Angestellte, sehr belesen, irgendwie die Ingeborg Bachmann im hohen Alter und versteckt hinter grossen 70Jahre-Sonnenbrillengläsern). Und viele mehr. Suche ich namentlich nach einer dieser älteren Nachbarinnen, finde ich einen Facebook-Eintrag: “ist bei einem sozialen Netzwerkprogramm, das Menschen mit Freunden und anderen verbindet”. Doch diese Dame, die mich anstrahlt, ist keine Bewohnerin des no-money-house! Soziales Netzwerk … Findet man denn immer die, die man wirklich sucht? Suche ich Miss Facebook 2008? Zufälligerweise kenne ich sie sogar. Ich geb zu, das war die letzte Person, nach der ich gesucht hätte. Da stosse ich täglich auf Leute, die wollen, dass man sie kennt, erkennt und wieder sucht. Oft erfülle ich natürlich solche narzisstischen Wünsche. Darum, bitte, ich suche einmal jemanden, der sich keiner virtuellen Community eingeschrieben hat und ganz schüchtern selbst die physische Community betrat. Spucks doch aus, du allwissendes Google.
Ich klappere auf der Tastatur. Ich fühl mich von diesem Paket herausgefordert. “Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden” kann ich nachvollziehen, doch “keine Einträge zu dieser Person gefunden”, “diese Person existiert nicht”, “gibt es nicht” lass ich nicht so gelten.
Diese Frauen haben kaum den Stadtraum betreten, denn jeder Schritt kostete sie zuviel. Jüngere Leute, die ebensowenig ihren physischen Lebensraum wahrnehmen wie die Schwestern, die findet man hier meistens im Internet. Die haben sich wenigstens dafür entschieden zuhause unterwegs zu sein. Ob die älteren Schwestern jemals im Internet waren? Vielleicht haben sie sich mit einem jüngeren Bild getarnt oder sind diejenigen, die sich hinter einem der rätselhaften low profiles verstecken?
Ich mache einen Test: Ich google meinen Grosspapi, der ein fleissiger Internetbenutzer ist. Und – ich bin natürlich enttäuscht. Kein einziger Eintrag! Dabei war mein Grosspapi Jahrzehnte, und ich mach mich nicht etwa lustig, im Samariterverein und spendete über zwanzig Jahre gewissenhaft sein Blut. Die älteren Leute suchen im Internet Informationen, keine Freunde, sagt er mir erklärend, denn Freunde habe man schon oder finde nun auch keine mehr.
Ich kann den Schwestern in Zürich kein einfaches unkompliziertes Pixelgeschenk machen, das ich bei Facebook oder StayFriends poste. Es geht nur per Schachtel und Reise durch den Raum, vor die Tür, per Knopfdruck durch die Hausklingel. Natürlich brauchts da mehr als ein “Willst du meine Freundin sein” zu einer Bekannten, die man nie trifft und die man wohl nie im Leben einfach so mal aufsuchen würde. Denn was sagst du an der Tür? – Ich habe eben gerade an dich gedacht, und ich so fuhr ich zu dir (mit dem Hintergrund, dass man sich 6 Jahre nicht mehr gesehen hat und an der Schule abundzu, wenns gut kam, ein paar Mal zusammen in der Mensa war – doch genau die, ja die!, wollen ja alle deine Freundinnen sein! Keine Ahnung wieso. “Christiane F. has got 1188 friends”…)
Ja, warum wollte ich ein Geschenk an jemanden schicken, den ich nie sehe, und selbst wenn ich in Zürich bin, bin ich ehrlich, nicht unbedingt mit überzeugter Vorliebe aufsuchen würde? Das fragt mich das Paket. Und schüttelt sich vor Lachen. Wollte ich ein Gutmensch sein zu Weihnachten? Mich doch mal melden nach zig Jahren, mit der Erwartung, dass sie ja eine solche Freude hätten eine Überraschung zu erhalten, ein sich-an-sie-erinnern?
Meine Erinnerung verliert ihre Referenz. Zurück kam nur die Schachtel. Das kann jedem passieren. So wirklich wie die Postschachtel, so steht in Zürich das no-money-house. Ich gehe hin und drücke auf den alten Türknopf: enter oder – ich mache ein post-it: Bitte übergeben Sie dieses Paket Frau * und *. Falls dies nicht möglich sein sollte, teilen Sie das Paket untereinander auf. Herzliche Grüsse an alle Schwestern, Sarah Müller.
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