Blauer Zug
Vier Tage Pondicherry. Nun fahren wir gleich weiter nach Andhra Pradesh. Mit einem Bummlerzug. Um 23 Uhr, heisst es, kommen wir an in Tirupati. David sitzt auf der Bank am Perron. Ich schaue ihn durch die blauen Gitterstaebe an. Auf dem Sims steht der kleine Pappbecher mit dem Chai. Auf dem Sitz gegenueber liegt das Buch Ramayana fuer die Fahrt bereit. Noch ist das Abteil leer, und die Ventilatoren an der Decke stehen still. Man sieht den Sitzen an, dass sich taeglich unzaehlige Menschen hier einrichten. Auf den Sitz Nr. 49 mir schraeg vis-a-vis setzt man sich hundert Mal, oder zweihundert Mal? Es ist das leerste Abteil, das ich je gesehen habe. Noch nie habe ich solche Leere, Stille in Indien erlebt, dass es mir auffiel, dass sie fast “laut” war. Die Stille erzaehlt hier ihre Geschichten. Ich versuche sie mir ganz fest einzupraegen. Wozu, weiss ich nicht. Ich will sie einfach behalten. Ein zweiter Passagier betritt das Abteil. Es ist ein kleiner aelterer Mann im weissen Hemd. Kurz darauf folgt seine Frau im orangen Sari. Die Nr. 49 natuerlich immer noch leer. Drei Flecken hats dort auf dem Sitz. Der dunkelblaue Plastikbezug ist stark abgeschossen. Ein Passagier, ein Kind, hat daran immer weiter rumgekratzt – ganz beilaeufig, in Gedanken versunken, waehrend der Fahrt. Eine grosse wuchtige Frau gesellt sich zur kleinen Gruppe. Die offene Seite des Saris laesst zwei grosse regelmaessige Bauchwuelste sehen. Einige Minuten spaeter hat sie die Arme wie zwei Riesenschlangen um den Kopf geschlungen und schlaeft, den schweren Kopf auf die kleine Reisetasche gebettet. Nordindische Touristen mit Rollkoffern gehen ernsthaft am Fenster vorueber. Die Maenner sind glattrasiert und tragen gefaerbtes Haar. David hat an uebersehbarer Stelle einen blauen Schalter auf blauer Wand gekippt. Die Ventis laufen. Maenner starren ins Abteil. Nieamand spricht. David erhaelt einen Anruf. Es ist Kumar, unser Nachbar von der Breitenrainstrasse. Alle Typen schauen gebannt beim Telefonieren zu. Kumars Mutter lebt in Pondi. Wir hatten eine falsche Nummer gehabt und konnten sie deshalb nicht besuchen. Als Kumar anrief, um die richtige mitzuteilen, war es also leider zu spaet.
Eine schwangere Frau, ganz in Hellrosa sitzt auf Nr.49, neben ihr ein kleines Maedchen. Ein Mann wankt muehselig an meinem Fenster vorbei und laesst sich auf eine Bank fallen. Er ist nicht alt, doch seine Beine sind alt. Sie scheinen nur noch mit aeusserster Anstrengung den oberen Koerper tragen zu koennen. Zittrig streben sie auseinander, als waeren sie aus altem Holz. Die Fusssohlen eines Elefanten: Endlos gelaufen.
Das Abteil fuellt sich bis auf den letzten Sitz und die Gepaeckablage.
Waehrend der Fahrt teile ich einmal den Sitz mit einem Maedchen.
Auf Nr. 49 wechselten in den ersten Stunden die Fahrgaeste fuenf Mal, dann hoerte ich auf zu zaehlen. Tirupati erreichten wir weit nach Mitternacht.
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