Sengende Wuensche
Als wir in Tirupati ankamen, war es ein Uhr nachts. In der blau getuenchten Bahnhofshalle lagen Menschen kreuz und quer mit ihren Kindern, Buendeln und Decken auf dem Boden. Hunde streunten durch das Menschenlabyrinth, Essensreste und Pfuetzen aufleckend.
Noch konnten wir die Wunderkraft dieses Pilgerortes nicht erahnen. Mit muedem Blick nach langer blauer Zugfahrt nahmen wir die Hoffnungen auf ein Wunder ringsum wahr: Man war gekommen, koerperlich versehrt oder auch gesund, um dem schwarzen Gott Venkateshwara, Vishnus Reinkarnation, auf dem Berg zu huldigen und daraufhin einen Wunsch erfuellt zu bekommen.
Spaet nachts suchten wir nach einer Unterkunft. Alles schlief. Die Luft stand erbarmungslos still. Erste Tropfen ueber den Lippen. Endlich finden wir eine passable Unterkunft. Die Liftfluegel gehen auf, und Ganesha schaut in den Lift. Wir sind tropfnass. An Ganesha vorbei zur letzten Zimmertuer des Ganges. Der Ventilator brummt traege, man atmet, was man kann. Das Fenster laesst sich zunaechst nicht oeffnen. Atmen, atmen.
Nach einer lauen Dusche sinken wir traege aufs Bett. Der naechste Tag bricht an, nahtlos, ohne Uebergang. Die schwarze Hitze wird nun weiss, sengend, verbrennend. Phaeton muss zweifellos hier mit seinem Feuerwagen vorbeigestoben sein auf seiner ersten und letzten Abenteuerfahrt, die ganze Gegenden versengte. In einem Hotelrestaurant brummen die kleinen braunen Ventilatoren. Eine Fliege klebt an meinem kalten beschlagenen Glas. Die sandige Strasse vor der Fensterfront blendet. Die Menschheit da draussen ist bis auf wenige Ausnahmen vollstaendig kahl. Mir ist, als versenge die Hitze hier selbst die Haare. Frauen in Saris sehen ploetzlich etwas unheimlich aus. Kinder wirken ploetzlich wie kleine Greise und Greisinnen mit zu grossen Koepfen.
In Wahrheit ist der Gott der Grund fuer die Kahlheit. Er fordert Pilgerhaar, und das tonnenweise. Gegen Tonnen von Wuenschen. Was davon ist schwerer? Ein Haar oder ein Wunsch?
Fuer einen Wunsch opfert der Hindupilger sein ganzes Haar. Uebrig bleibt nur ein dunkler Streif entlang des Scheitels, der Sonne Brandmal.
Nach dem Fruehstueck wasche ich mir die Haende. Das Wasser ist so kochend heiss, dass ich mir beinahe die Finger versenge. Der schwarze Wassertank auf dem Dach muss kurz vor der Explosion stehen. Wir gehen die Treppen hoch aufs Dach. Da oben flimmert es. In einer Ecke an der Bruestung haeufen sich leere Schnapsflaschen. In der Mitte des Dachs steht ein grosser Holzofen, der stark raucht. Mehrere Maenner, schwarz von der taeglichen Arbeit unter dieser Sonne, feuern diesen mit Kokosnussschalen ein. Dahinter finde ich die Toiletten. Das Wasser in den Kuebeln ist warm. Es ist die Hoelle auf den Daechern, von denen man auf den Tempel hinunter sieht. Hier fanden wir die beste Aussicht.
Wir gehen langsam wieder in die Welt hinunter. Unsere Glieder, unsere Zungen sind lahm. Wir denken so weit, wie unsere Schritte reichen. Die Sonne hat uns. Sie durchleuchtet unsere Gedanken. Die Hitze zeigt uns so wie wir sind. Geschichten und Erinnerungen zerfallen, verlaufen. Es ist zu heiss fuer Geschichten. Die Sonne loescht so einiges aus, fuer eine Weile. Ich spuere Existenz. Selbst fuer die Liebe ist es zu heiss. Die Augen des schwarzen Gottes lasten ueberall auf einem.
Was bleibt einem infolge dessen anderes uebrig, als gleich den Glaeubigen einen Wunsch zu aeussern? “Bring uns fort von hier, grosser Venkateshwara, bring uns auf die fernen, luftig-feuchten Andamanen. Halte das Schiff auf, moege es einen Tag spaeter auf die hohe See auslaufen. Grosser, schwarzer Venkateshwara”, ich riss mir ein Haar aus, “bring uns weg von hier”.
Am Abend schauten wir von der Dachterrasse zum beleuchteten Goetterberg hinueber. Wie viele Menschen wohl an diesem Abend des dunklen Gottes ansichtig wurden? Und wir, die wir uns mit seinem Abbild ueber unserem Bett begnuegten.
Diesen Moment sitze ich in einer luftigen bastenen Huette, aehnlich einer Schmuckschatulle, auf den Andamanen und frage mich, wie schwer Wuensche wiegen. Der Gott sitzt nach wie vor in Tirupati und schweigt hierzu.