July 5, 2010

Chinesische Sommerfrischler

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 12:35 pm

Seit zwei Tagen sind wir erstmals in sechs Wochen so richtig auf dem Land. Sechs Wochen lang reisten wir meist durch grosse unbekannte chinesische Staedte. China, der Name ruft in meinem Bildergedaechtnis zwar stets dasselbe alte Bild hervor: Ein gruener Park mit roten Pagodengebaeuden und weissgeschminkte Menschen mit langen Aermeln. Es ist das Chinabild, das ich von irgendwelchen Tapetenmustern kenne. Wahrscheinlich Schloss Versailles, der chinesische Salon. In Wirklichkeit haben wir sehr viele moderne Grossstaedte gesehen. Spiegelnde Hochhaeuser, breite Strassen und endlose Shoppingmalls. Das Land widerfuhr uns nur waehrend Ueberlandfahrten im Bus und Zug. Auf diesen Fahrten sah man vor allem Maisfelder von Grossbetrieben. Der Mais hoert nirgends auf. Es handelt sich dabei um Tierfuttermais. Im Restaurant ist ein Teller Maissalad sogar relativ teuer. Nun sind wir endlich einmal hinter diese Maisfelder gefahren. Mit einem kleinen Bus sind wir von der naechstgroesseren Stadt Mingshui in das kleine Dorf Zhujiayu gefahren, das am Fusse eines felsigen Huegels liegt. Hier hoert die Strasse auf. Der bukolische Ort ist umgeben von einer neugebauten Ringmauer nach mittelalterlichem Stil. Als Besucher bezahlt man einen Eintritt von etwa 2 Franken. Dieses Dorf duerfte bis in die 70er oder vielleicht etwas spaeter ganz gewoehnlich in Stand gewesen sein. Mittlerweile ist ein Grossteil der Haeuser eingestuerzt oder unbewohnt. Viele Haeuser sind aus Lehm, manche auch gemauert. Das Dorf war einst vor Jahrhunderten ein Staedtchen waehrend der Ming und Qing Dynastie. Es wohnen wenige und vor allem aeltere Leute hier im Ort. Rund um die Haeusersiedlungen liegen noch einige Terrassenfelder am Hang, doch hier gibt es keine Landwirtschaft im groesseren Umfang. Die in den 40er Jahren erbaute Schule wird als Museum benutzt, wo ein paar Alltagsgegenstaende ausgestellt werden. Die Schule besteht aus mehreren Gebaueden mit dazwischenliegenden Innenhoefen. In der Naehe steht eine grosse Wand mit dem langsam abgewaschenen Portraet Maos, wovon die polierten Knoepfe seiner blauen Joppe am besten noch zu sehen sind. Ein so halbzerfallenes Doerfchen verstroemt natuerlich ganz besonders romantischen Charakter. Tatsaechlich ist dieser Ort tagsueber ein sehr beliebtes Reiseziel fuer die chinesische Mittelklasse, die mit Privatauto herfahren koennen. Die aelteren Frauen bringen am Vormittag allmaehlich ihre Eier, Omelettes, Getraenke und Souvenirs in Position und warten auf Besucher. Die wenigen Restaurants, die es gibt, sind am Abend voellig leer. Als wir ankamen verspiesen wir ganz einsam einen Teller Pfefferminze im Bierteig und Omelettes sowie Tomatensuppe. Heute Mittag hingegen war der Hof unserer Herberge voller Leute und es wurde alles moegliche aufgetragen. Der Tisch der Gaeste sah nach dem Essen aus wie nach einem mittelalterlichen Gelage im reichen Ueberfluss. Dunkle Limousinen rauschen hier auch an und schicke Damen und Herren kommen hier auch auf Wochenend- oder Ferienvisite. Ferien auf dem Lande. Das sei heutzutage gerade sehr angesagt bei denen, die sich etwas mehr leisten koennen, meinte ein chinesischer Geschaeftsmann kuerzlich zu uns. Die Leute hier im Ort freuts jedenfalls, denn das bedeutet ihre Lebensgrundlage. Die Haehne werden, bis zum Tag, an dem sie bestellt, gewogen und geschlachtet werden, in leider sehr engen Kaefigen gemaestet. Alles wird bereitgemacht fuer die Touristen auf dem Lande. Der Hahn wird frisch geschlachtet, und der Gast darf in die Kueche und Zutaten auswaehlen. Tagsueber laeuft man zur neuerbauten Betonpagoda. Dort oben erwartet einen unter spiritueller Musik eine Art moderner Tempel, der von einem aelteren Herrn und einem juengeren in traditionellem Kostuem bedient wird. Man bezahlt 2 Yuan, um auf die Pagoda zu steigen, die Aussicht zu sehen und die Taogoetter aus zu buntem Porzellan anzuschauen. Gegen 100 Yuan (ca. 18CHF) kann man an einem taoistischen Ritual teilnehmen. Ein junges Paerchen liess sich dazu hinreissen mehrmals den Stoessel gegen eine grosse Glocke zu schlagen, waehrend der Mann im Kostuem dazu etwas sehr laut rezitierte. Der junge Mann rieb danach eifrig an den Henkeln einer Kupferpfanne, damit ein Geraeusch entstand, Raeucherstaebchen wurden angezuendet und das junge Paerchen wirkte in ihrer Taetigkeit irgendwie sehr zeremonielos und ungeschickt. In pastellfarbenen Coddle-T-Shirts (Nachahmung von Lacoste) und Louis-Vuitton-Verschnitten wirken sie fast unecht in der Landschaft, oder wirkt die Landschaft unecht? Das Dorfleben und alte Traditionen sind wieder In. Halb vergessen wirkt dieser Ort und halb im Aufbruch zu einem populaeren Naherholungsgebiet.

Ueber Chinas Schachbrett

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 12:19 pm

Wo lai Zhungguo wanr. Ich komme nach China reisen. Oder: Ich komme nach China spielen. Ob man den Spielstein von Feld zu Feld schiebt oder ob man fremde Laender besucht – in China benutzt man ein und dasselbe Verb fuer diese Taetigkeiten – “wan”. Dabei sind Chinesen nicht wirklich die grossen Welteroberer und leidenschaftlichen Reisenden. Dafür sind sie absolut spielsuechtig. An jeder Ecke wird gespielt und gepokert. Und das von morgens frueh bis spaet in die Nacht. Eines meiner Lieblingsszenarios zeigt zwei Maenner in beigen Bundfaltenhosen und weissen ausgetragenen Unterhemden (was hier alle Maenner ueber 45 tragen) beim Schach mit Zigarrettenkippen im Mundwinkel und einem alten fetten Mops im Schoss.
David scheint gerade zum Spielen nach China gekommen zu sein. Ueberall lauert er den alten Maennern beim Xiang qi (Chinaschach) auf und wird auch nicht selten aufgefordert mitzuspielen. Schweigsam werden eine Weile lang die Positionen ausgefochten, bis sich eine grosse Traube Maenner ums Brett ansammelt und die Kommentare und Ratschlaege immer lauter werden. Bei hitzigen Spielen ist das Brett voller Zeigefinger. Die handballengrossen Steine knallen aufeinander, wenn eine Farbe der anderen unterliegt. Die Spiele enden immer lachend, mit vielen Lachfaeltchen, viel und schnellem Wortfluss und vielen “Tinbudong, Tinbudong, Tinbudong” (Tinbudong: Ich verstehe nicht.) Irgendwann streifen wir dann weiter dem schmalen linearen Gaesschen entlang, durch den Hutong, die chinesische Altstadt. Streng ausgerichtet nach den vier Himmelsrichtungen bilden diese Staedte einen groesseren Plan eines Schachbrettes. Auf dem Pekinger Bazaar haben wir eine Schatulle mit Xiang qi Steinen und Spielfeld gefunden und reisen seither mit Xiang qi durchs Land. Dieses kleine Zaubermittel verkuerzt die langen Reisezeiten und ueberbrueckt alle Tinbudongs. Beim Spielen ist Sprache gar nicht so noetig. Wir stossen hier auf sehr viel Offenheit gegenueber uns Reisenden. Das hat uns sehr erstaunt, da wir oftmals das Gegenteil gehoert oder vermutet hatten.
Englisch sprechen sehr, sehr wenige Leute. Erstaunlicherweise wurden wir aber oft von kleinen Maedchen in Englisch angesprochen, ob wir Hilfe brauchen. So hatten wir einmal im Nudelladen eine kleine Uebersetzerin. Ansonsten jonglierten wir mit den Silben unseres Reisefuehrervokabulars herum und wiederholten manchmal tausendfach, bis wir dann mit den Haenden zeichneten. Mit der Zeit lernten wir ein paar Worte, und irgendwann stellten wir fest, dass wir wohl laenger in China bleiben wuerden, da wir nicht weiter nach Russland reisen konnten (debile Visabestimmungen). Dann, so kann man sagen, wurde das Spiel etwas ernster, und ich lernte zwei Wochen ganz grundlegendes Chinesisch. Nach zwei Wochen Peking packten wir unser Schach und mein Chinesisch Kauderwelsch in kleine Rucksaecke und fuhren in den chinesischen Dongbei (Nordosten). Eine neue Spielrunde. Mit nun zwei gesammelten Spielbonuspunkten. Nun wurde Einkaufen lustiger, man konnte endlich mal verhandeln und sonst mal etwas schwatzen (wenn auch wirklich sehr rudimentaer). Mit einer neuen Sprache hat man das Privileg eines Kleinkindes, so scheint mir. Das “alles nochmals von vorne” hat auch wirklich etwas Erfrischendes ganz zu Beginn. Herumstammeln, in der Not Worte zusammenflicken – alles ganz normal. Hauptsache man kann sich irgendwie ausdruecken (Gestensprache ist hier auch nicht ganz gleich wie bei uns). Ich muss zugeben, die Leute beweisen hier meistens auch eine lange Geduld.
Die Reise in den Nordosten war vor allem Dank Gespraechen und Spiel mit LEuten sehr spannend. Die Landschaften fand ich auf meiste Strecken eher bedrueckend. Seit wir in China angekommen sind, haben wir keinen natuerlichen Wald gesehen. Natuerlich ist das Land weit und gross, und wir haben zweifellos nur einen Ausschnitt gesehen. In diesem Ausschnitt jedoch standen Baeume streng Spalier oder in lichten genau bemessenen Anordnungen. Kein Saeugetier findet dort seinen Platz. Jeder Flecken Erde ist Nutzflaeche. Linear abgesteckt und bebaut mit Jungwald, Mais oder Wohnbloecken. Der ewig weisse Himmel, durch den heiss und grell die Sonne drueckte, machte die Stimmung gaenzlich depressiv. Ueber den Staedten wie Qingdao, der Kuestenstadt, hing ein dicker weisser Nebel, angeblich Smog, der Landschaft und Meer verschluckte. Diese Welt war grell ausgeleuchtet und schattenlos. Zweidimensional. Flaeche reihte sich an Flaeche. Das beste war, sich waehrend Zugfahrten in ein Spiel oder Buch zu vertiefen und in den Staedten die kleinen schattigen Winkel zu suchen, die Jiaozi (Dumplings) und Nudelbuden, die Spezereienlaeden und Teestuben. Nach Indien und Nepal ist China ein sehr lineares Spielbrett, eher Formenstreng und schlicht. Unsere Reiseroute wirkte formaler und strenger, unspektakulaerer. Die Tempel erschienen mit unglaublich leer und auch der beruehmte Gugong, die verbotene Stadt, war riesig aber irgendwie so hohl. Nach dem Barock Indiens muss man sich direkt an diese per Kompass ausgerichtete Linearwelt gewoehnen. China ist ein pragmatisches Spiel, soviel wurde uns klar. Hier faehrst du als Tourist von A nach B mit Bus Nummer C zur Sehenswuerdigkeit Z. Selbstsuche und Abenteuer, das liegt hier einfach nicht so in der Luft. China ist ein erstaunlich exakt organisiertes und weit veraesteltes System, das sich taeglich so scheint es mehr und mehr ausweitet. Strassen- und Schienennetz funktionieren einwandfrei, riesige Bahnhoefe werden gebaut, Siedlungen entstehen in Null Komma Nichts, Tausende von Arbeitsplaetzen werden wohl woechentlich geschaffen, jede Stadt zeigt stolz eine grosse Baustelle vor der bisherigen Skyline. Nichts wird dem Zufall ueberlassen. Wachstum, Reichtum, Groesse. In den Loechern des Netzes, dort befindet sich wohl noch das Abenteuer. Tourismusattraktionen wie Nationalparks gehoeren unabtrennbar zu diesem grandiosen System. Unser Tag in Chang Bai Shan (Nationalpark in Provinz Jilin) haette nicht schlechter verlaufen koennen, waehrend jeder einzelne chinesische Besucher ueber das Erlebnis frohlockte. Morgens um sieben Uhr standen wir bei der Kasse bereit, um bald eingelassen zu werden. Bis zur Oeffnungszeit um halb acht hatten sich mehrere hundert Besucher angesammelt, und wir sahen uns von einer lauten Menge mit Megaphonen bestueckter Guides umgeben und befuerchteten eher Anstrengung. Der Eintrittspreis war hoch, und eine Armada von Passagierbussen verhiess uns nicht gerade Abenteuer. 15 Minuten lang fuhren im Minutentakt gefuellte Busse entlang perfekter Hauptstrassen durch einen Birkenwald zu einer Mittlerstation. Von dort konnte man zu Fuss weiter auf einem Holzsteg ins Tal spazieren. Die dichte Beschilderung mit stupiden Warnungen suggerierten einen voellig hilflosen Besucher, der noch nie einen Wald betreten hat. Wir wurden gewarnt: Verirrt euch nicht. Doch – es gab ja nur einen Weg. Am Rande des Weges ueberall Aufpasser und Platzanweiser. Langsam wurden wir unwirsch. Das war zuviel Kontrolle. Und als wir endlich den Anstieg zum Kratersee erreicht hatten, hielt uns ein Mann mit Funkgeraet an. Der Weg sei seit zwei Jahren verschuettet und gefaehrlich. Man muesse ein Ticket kaufen und mit dem Jeep hochfahren. Unnoetig zu erwaehnen, dass der ganze Poebel dort anstand und tatsaechlich zusaetzlich noch ein Ticket kaufte, um in der perfekten Trekkingausruestung hochgefahren zu werden. Wir sahen uns umgeben von Verrueckten. “Kann man nicht zu Fuss hoch?” – “Nein, natuerlich nicht. Ausgeschlossen.” Eine junge sympathische Studentin meinte: “Es ist wirklich extrem teuer, aber es lohnt sich so!” Der kontinuierliche Fluss schwarzer Jeeps, jeder etwa 50 Franken fassend, hoerte nicht auf. Die Strenge, mit der Leute per Megaphon in Reihen eingegliedert wurden, kehrte uns beinahe den Magen um. Wir verliessen das Spielfeld fluchtartig. Der Ausflug in die Natur bot uns den Anblick fremdgesteuerter Massen und ausgestopfter Hirsche. Von oekologischem Park und Natur kann nicht die Rede sein. Das einzige Tier, das dort zu finden ist, ist ein gigantischer Geldesel. Unsere chinesischen Kolleginnen und Kollegen der Forschungsstation Landschaftsoekologie bedauerten im Nachhinein, uns nicht den “geheimen” Weg – durch das Netz – zum Bergsee gezeigt zu haben. Wir atmeten auf, dass sie wenigstens einen eigenen Weg hoch gefunden hatten.
Das Erlebnis machte uns wohl auch ein bisschen zu Systemkritikern. Wir haben oft hitzig untereinander oder mit anderen Leuten ueber dieses neue grossorganisierte, unternehmerische China hinter der langsam abschuessigen molligen Maomaske diskutiert. Wir sind nicht selten hin- und hergerissen zwischen Bewunderung gegenueber dem rasanten Fortschritt und Missfallen gegenueber einer forschen und ruecksichtslosen Vorgehensweise angesichts Aussichten auf Profit. Alles scheint jedoch perfekt geplant zu sein, viel besser als zu Zeiten Maos, obwohl das nie zur Debatte steht. Die heutigen Fünfjahresplaene bescheren keine grossen Hungersnoete mehr (wie nach dem “Grossen Sprung nach vorn”). Sie treiben die Bauern in die Stadt, die Landwirtschaft wird auf staatliche Grossbetriebe verteilt. Maisfelder meilenlang. Monokultur heisst die neue Kultur.
Ich genoss die Aussichten einfach nicht so sehr. Wie gut war es drum im Kleinen, wo die Menschen noch spielen. Um laeppische 2 Yuan, weil es so ein bisschen spannender ist.

June 4, 2010

Die Bedeutung des Herz-Sutras im Hotel Nepal

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:51 am

Wie muss es gewesen sein, frage ich mich, in den fruehen Siebzigern, als erstmals antiimperialistische Weltentdecker an den Pokharasee gelangten? Laut Schilderungen haben sie eine bessere Welt entdeckt. Sie liessen sich nieder und lernten die Sprache der Einheimischen, lernten deren Lebensrhythmus, deren Bewegungen, Gesten. In dieser terra incognita gab es genug Freiraum fuer neue Lebensentwuerfe, naemlich, aus dem System, das als spezifisch westlich galt, imperialistisch und normierend, auszusteigen. Die konventionellen Huellen sollten fallen, und diese neugeborenen Menschen sahen sich an der Pforte des Paradieses.
Ein nahezu biblischer Flecken Erde, ein wilder Park mit Aepfeln, wo den Menschen noch hie und da goettliche Schauer befallen.
Eine uebliche Metapher fuer Unberuehrtheit, Unentdecktheit und fuer Reisende die Metapher fuer eine Reise der Suche nach geheimnisvollem und mythenumwobenem Ziel; sei es, dass ich gerade die goldenen Aepfel der Hesperiden oder einen alten Guru suche, der mir das Herz-Sutra lehrt … Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha …
“Gone gone, gone beyond, gone altogether beyond, O what an awakening, all hail!”
Aus den Traeumen aufgewacht, frage ich: Wo? Wo ist dieser Ort?
Der Weise, den ich vielleicht suchte, wuerde antworten wie zuvor: “Gate, gate”. Gone, gone.
Wo zum Teufel, und dessen Reich ist nicht minder umstritten, ist das alles hin? Wo sind die Hippies? Wo ist die sagenhafte “echte” Landschaft?
Wo natuerliche Ufer waren, wurde nun Erde aufgeschuettet fuer Pflasterpromenaden. Wo sich Reisfelder einem grossen Faecher gleich in Terrassen reihten, stehen infantil wie Baukloetze pinke Betonhotels. Pokhara ist, der antiimperialistischen Entdeckung zum Trotz, ein buergerlicher Moloch geworden. Schicke Wi-fi Cafes nach mondaener moderner Innenarchitektur und mit Illykaffee. Ein leicht alternativer Groove bleibt noch an den Huegeln der Stadt haengen, mit Yoga und Meditationsseminaren. Aber auch diese sind mittlerweile Teil der kommerziellen Touristenpalette. An die Strandpromenade des Paradieses Pokhara kommen die Einheimischen arbeiten, auch die Bettler. Die Bevoelkerung hat es geschafft, dieses Paradies, einen Traum schlechthin, selber zu betreiben. Ganz Nepal ist auf die Betreibung dieses Paradieses fuer Touristen angewiesen. Das kann diesem Land momentan auch niemand vorwerfen, und ich wuerde ihnen diese Kurbel auch nicht aus der Hand nehmen wollen. Aber – keine Inszenierung ohne die trennende Wand. Das ist die Bedingung des Spektakels. Ich habe es entlang der Haeuserfassaden, der Berge, ja sogar der Gesichter ausmachen koennen, dieses transparente Trennwaendchen. Photogene Gesichter mit bitterer Wahrheit in den Pupillen, traditionell geschmueckte Haeuser, wo der Tod ein und ausgeht wie ein Stammgast. Man kann diese zweischneidige Realitaet ignorieren, oder man kann unerbittlich drauf eingehen. Wie ich. Ich breite morgens die Zeitung ueber den Tisch aus und lese Nachrichten ueber depressivste Armut und den Freitod junger Frauen. Ich wuensche mir, dass diese Nachricht ein Loch in die Zeitung brennt, nein, vielmehr, dass sie Loecher in diesen 24Stunden Ferienfarbfilm brennt.
Die Rueckwand des bequemen Paradieses ist eher das Gegenteil, ja, aber dafuer “echt”. Genug von Paradiesen!
Davon habe ich die Nase langsam voll. Reden wir doch lieber von Realitaet und Realitaeten.
In einem malerischen Huegeldoerfchen stiegen wir fuer drei Naechte ab. Das Gasthaus, in dem wir wohnten, vewoehnte mit hoelzerner Gemuetlichkeit und unbefangenem Umgang des freundlichen Personals. Eines Nachmittags sass ich im leeren Cafe, und die Hausangestellte stellte mir uebliche Fragen nach Familie, Beruf, Kindern etc. Etwas schwunglos gab ich darauf Antwort, fragte aber dann gleich nach ihrer Familie. Zwei Kinder. Etwas angeregter fragte ich nun, ob diese auch hier wie all die anderen vielen Kinder in Uniform zur Schule gingen. Keine Antwort. Die wenigen englischen Worte reichen jetzt nicht mehr. Glaenzende Augen und gestikulierende Arme und abwechslungsweise Englisch und Nepali bringen eine stossweise rezitierte holperige Geschichte hervor: Kinder nicht hier … geschieden … Unglueck – die Haende fliegen in die Luft, die Augen zeichnen zwei Kreise – grosse Tochter im Internat in Pokhara … kleine Tochter beim Mann … schlechter Mann … Alkohol … mit 14 geheiratet … keine Familie mehr … zweite Ehe ganz unmoeglich … Schande … bin nicht schoen … das Leben ist zu Ende … hier gut … Menschen helfen … ich bin 24.
Sie ergreift meine Arme und haelt sie an die ihrigen, wie frueher, als wir Maedchen verglichen, wer ist braeuner aus den Ferien zurueck gekommen?
Unsere Arme haben genau dieselbe Farbe. Es ist ungerecht, heult das Kind in meinem Kopf los.
Ich schaue sie an, versuche mich aber zusammenzureissen. Es ist vorbei, sage ich. Dein Leben ist noch nicht vorbei, und du traegst keine Schuld an dem, was passierte. Es bleibt dir Zeit fuer Besseres. Du bist auch schoen. Etwas Gescheiteres vermochte ich leider nicht zu sagen. Sie kniff mich lachend in die Wange.
Alles vergeht, Gutes sowie Schlechtes. Das ist das einzig Troestliche in diesem Augenblick. Ein Augenblick im selben Herzschlag:
Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha …

Darjeeling 09:40 – 09:50

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:29 am

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May 26, 2010

Ein Buenzli im Nirvana?

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 3:09 am

Wir waren mit dem Bus unterwegs von Kakarbitta nach Kathmandu. Das bedeutete vierzehn Stunden Fahrt, mit nur wenigen Unterbruechen. Der kleine Grenzort war noch ganz in Dunkelheit gehuellt, als wir uns um vier Uhr in der Frueh in den Bus setzten. Auf dem Fahrersims brannten langsam zwei Raeucherstaebchen ab. Wir warteten und verscheuchten die Muecken, die um unsere Fussgelenke surrten. Der Fahrer liess sich in den Sessel plumpsen, und der Ticketjunge hielt sich am Tuerrahmen fest. Die mond- und sternlose Nacht liess unseren Bus wie ein Spielzeug in einer schwarzen Manteltasche verschwinden. Entlang der Landstrasse leuchteten immer wieder Taschenlampen auf, und der Bus liess neue Leute zusteigen. Um sieben Uhr war der Bus bis auf den letzten Platz voll. Der Tag brach an in weissem Dunst und versprach sehr heiss zu werden. Spaetestens gegen Mittag glich unser Bus einem Dampftopf und wir Passagiere einer Handvoll gut gequollener Dampfbroetchen. Neun Stunden hatten wir einigermassen mit einer sparsamen Mittagspause mit Dal Bhat ueberstanden, als ein fataler Fahrerwechsel stattfand. Von hinten sah er aus, wie ein gemuetlicher Buddha, mit tatsaechlich langen Buddhaohren, die halbmondig wie Momos von seinem Kopf abstanden. Was dieser Buddha uns bescherte waren fuenf Stunden Schweisshaende und ein Gespraech ueber die Wiedergeburt. Meine freundlichen Versuche “Excuse me, we would like to arrive in Kathmandu alive” fruchteten leidlich, und sogar das alte nepalesische Vaeterchen, das diskret den bleichen Kopf aus dem Fenster streckte, fiel nur deswegen ueberhaupt auf, weil es im Fahrtwind den Busbegleiter in der offenen Tuer vollkotzte. Wir schnitten Kurven, schliffen die Kanten an vorbeikommenden Bussen. Unser Bus war wie eine Guetzlischachtel auf Ralley. Mein minimal seherisches Potential sagte mir, dass diese wildgewordene Kamblybox heute noch ein Opfer findet. Hurra, Geisterbahn: Ploetzlich sehen wir ein Buswrack nach dem anderen auf der Strassenseite liegen. Gekippt, ausgebrannt, wie ein Kaefer auf dem Ruecken, mit dem Hinterteil in einem Haus und komplett eingeschossen. Fuenf an der Zahl. Wir rufen abundzu was zum Buddha nach vorne, der den Fuss wie einen Klotz auf dem Gas laesst. Nichts. Hoch gehts auf der Bergstrasse nach Kathmandu. Schneller als die Engel fliegen. “David, wenn du waehlen koenntest, als was moechtest du wiedergeboren werden?” – “Hm, im schlechteren Fall als europaeische Hauskatze.” Genau wie ich! Was eine bessere Wiedergeburt betrifft, so geraten wir beide eher in Verlegenheit. Wir stammen aus dem Bollywood-Film-Paradies. Vor unserer Landschaft und Architekur tanzen Inder in gelben Windjacken und Inderinnen in bunten Sarees. Unser Leben ist ein indischer Traum. Wenn dieser Film fertig ist, was dann? Encore une fois? Oder kommt man nach einem friedfertigen, langweiligen, ja vielleicht buenzligen Schweizer Leben direkt ins Nirvana? Wir geben zu, wir verstehen die hierarchische Wiedergeburtsordnung nicht ganz, und wollen uns auch gar nicht drueber lustig machen. Wir stellten schliesslich nur fest, dass wir beide eigentlich mit dem Wiedergeburtsmodell der europaeischen Hauskatze ueberaus zufrieden waeren und die hoehere Wiedergeburt gerne anderen ueberlassen wuerden. Wenn man freilich waehlen darf. Ich kann mich erinnern, dass ich frueher insbesondere auf unseren roten Kater neidisch war, als ich jeweils morgens um sechs Uhr meine Sachen zusammenpackte und der faule Kerl schnurrend eingerollt auf dem Sofa lag und schlafend lachte. Ein kurzes Leben, aber immerhin, viel Zeit, um gekrault zu werden. Ich sehe mich schon auf vier Beinen unter Brombeerhecken durchschleichen, waherend Kater David an der Sonne liegt. Doch ploetzlich ein Motorrad! Die Katze kreischt. Die moerderische Kamblybox: Drei Maenner auf einem Motorrad reissen vor uns die Augen auf. Der Schreck haelt sie starr, doch ihr Fahrer schafft es den Lenker im letzten Moment herumzuziehen. Sie verschwinden schleunigst am linken Rand der Windschutzscheibe. Buddha verzieht keine Miene. Er spielt sich tatsaechlich auf, als waere er ein schicksalshafter Komet, ein goettlicher Thunderbolt.
Die Dampfbroetchen im Bus realisieren nichts. Zu lange haben wir alle schon geschmort.
Dann, die naechste Ortschaft. Eine Schranke. Die Kamblybox steht still. Am Rand der rechten Windschutzscheibe bildet sich langsam ein immer groesser werdender dunkler Fleck. Faeuste werden erkennbar, und wir sehen wieder die drei Maenner mit dem Motorrad. Wutenbrannt, treten sie gegen den Bus, steigen zum Fahrer hoch und schlagen ihn ins Gesicht. Ihre Augen sehen furchterregend aus, irgendwie unwirklich. Wie die kugeligen rotgeaederten Augen wutenbrannter Goetter wie Vajrapani. Buddha verhaelt sich zumindest buddhalike. Er laesst sich kommentarlos das T-Shirt zerreissen und ins Gesicht schlagen. Als handle es sich um einen kurzen Donnerhagel oder einen Wespenangriff, haelt er sich still, bis die Maenner von ihm ablassen und die Menge rund herum sich beruhigt hat. Dann ist es ploetzlich gut. Ich war froh, hatte sich also das Fatum erfuellt fuer den heutigen Tag und hatte der Schicksalsgott nicht mehr gefordert als einen Blick ins Katzenauge des Todesgotts (Yama).

April 11, 2010

Hindustan – Ein Rauschen in der Leitung

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 2:32 pm

So viele Gesichter siehst du, so viele Muender, Augen, Ohren, Frisuren. Da meinst du endlich, “das” Gesicht zu sehen, ein Du. “Wer bist du?”, denkst du, “Wie bist du und warum schaust du gerade so?” Eure feuchten Arme streifen sich beim Voruebergehen, die Blicke senken sich zu Boden. Diese Begegnung wird sich unendlich wiederholen. Ein Gesicht – tausendfach Gesicht. Am Anfang bleibst du haengen, verweilst. Doch irgendwann spuelt es dich einfach weiter. Gesichter sind Sandkoerner. Dieser Sand schleift dich glatt wie eine Muschel, sogar durchsichtig vielleicht. Ja, an manchen Tagen bist du leer wie ein Muschelhaus. Es ist schon fast ein bisschen zum Weinen. Momente ohne Praegung reihen sich zu einer Kette von Minuten, Stunden und Tagen. Warten, bis jemand endlich etwas in die glatte Schale ritzt. Ein kleines Wort, etwas Persoenliches, eine kleine Praegung. Ich denke an das perlmuttenseelen verlassene Haus des Nautilus Pompilius. Bis in die tiefste seiner Schimmerkammern horchte ich und vernahm dabei nur ein dumpfes ewiges Rauschen aus dem Schneckenpalast.
Indien rauscht in meinem Kopf. Wenn ich keine Muschel bin, dann halt ein Radio, auf dem staendig der richtige Sender gesucht wird. Was soll ich hier noch anschauen, wen oder was soll ich hier noch anhoeren. Das Rauschen verstummt vor der hermetisch abgeriegelten Tuer eines Buchladens in Kalkutta. Der Blick streift die Buecherregale, und die rechte Hand zieht hie und da ein Buch heraus, um es sogleich wieder zurueck zu stellen. Da unterbricht mich ploetzlich jemand in dieser schweifenden Taetigkeit. Ein aelterer Mann, beinahe zahnlos und mit dicker Hornbrille, gekleidet in Shalwar und Strickpullunder ist vorsichtig auf mich zugekommen. Er zeigt mit dem Zeigefinger auf das Buch, das ich in der Hand halte. “Dieses Buch kann ich ihnen nur sehr empfehlen. Wunderbar und geistreich geschrieben.” – “Sie kennen den Autor wohl gut?” – “Oh ja, wir waren lange Zeit Nachbarn. 1992 ist er allerdings leider verstorben, doch mit seinem Sohn besteht weiterhin ein nachbarliches Verhaeltnis.” So habe ich den Nachbarn von Satyajit Ray kennengelernt. Seither lese ich Rays Kurzgeschichten, und es scheint mir, das Rauschen ist etwas verklungen.

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Nautilus Pompilius – Gefunden auf North Passage Island, Middle Andaman Islands

March 29, 2010

Stuendeler Huendeler

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 7:47 pm

Hundeleben in Indien. Ein Leben als Hund. Hunde leben in Indien. In Indien “leben” Hunde. Eine kleine Auslegeordnung zum Thema. In Indien ist ein richtiges Hundeleben moeglich. Mager, zerlaust, rippig, aufgedunsen, von Kraetze befallen sind die schwaecheren, die missmutigeren, die sich winselnd, flehend auf den Boden werfen oder ploetzlich aus mutiger Dummheit irgendwo zubeissen. Die anderen, die etwas staerkeren eben, sind sicher genauso windigen Charakters, doch sie halten sich gut, denn sie sind schlauer. Sie laufen mit Touristen als treue Begleiter mit, lassen sie Sicherheit und Treue spueren, bis sie ein Stueck Fisch bekommen oder dann doch einfach als Schleimer entlarvt und mit dem einheimischen “Hep!” weggejagt werden. Das ist das Hundeblicktraurige: Obwohl sie sich im Rudel so stark fuehlen, und ganze Straende unsicher machen, sucht sich jeglicher Klaeffer irgendwie den Bezug zu einem Menschen. Zurueck zum Wolf, das ist zu spaet. Das koennen sie nicht mehr. Der Mensch ist ihre Gnade. Indische Hunde fristen ein Leben unter absoluter Menschengnade: Sie werden genaehrt, verstossen, verjagt, getreten, gefuettert, beworfen – aber nicht getoetet. Mehrmals jaehrlich bringt die Huendin neue und wieder neue Geschoepfe zur Welt. Es sind samtweiche kleine Welpen, die in den Ressorts von Touristen gepaeppelt, von Kindern gehaetschelt und getaetschelt werden. Man liebt das Leben, solange es jung ist. Wie die Hunde ausgewachsen sind, traegt die Hundemutter bereits die naechste Generation. Ihre Zitzen sind so gross, man meint, man könnte dieses Tier melken wie eine Kuh oder eine Ziege. An jungen Hunden fehlt es nie – ein wahrer Jungbrunnen. Die Alten muessen sich selbst durchzuschlagen wissen. Manche mausern sich zu tatsaechlich treuen Dienern, die den Weg nach Hause zeigen, andere Hunde verscheuchen und ergeben vor der Huette warten. Andere kaempfen sich sonst auf irgendwelche Art an den Menschen vorbei durchs Leben. Sie fahren Schiff, Zug, warten an Bahnhoefen, baden am Strand. Richtige Stuendeler.
Kuerzlich bestieg einer mit uns das Schiff nach Long Island in Rangat. Ein schlanker Hellbrauner mit glattem Fell. Ein angetrunkener Bordmechaniker suchte ihn anfaenglich, vergass ihn im Laufe der Ueberfahrt aber dann. Kurz vor Long Island entdeckte er denselben wieder, als dieser am Bordrand stand und scheinbar irgendwohin aufs Meer hinausschaute. Also schlich er sich heran, und befoerderte den Braunen mit einem kurzen heftigen Tritt ins Wasser. Es waren noch ein paar hundert Meter bis zum Ufer. Der Hund tat nichts anderes als hinter dem Schiff hinterher zu schwimmen. Er folgte deutlich der Fahrspur, den Kopf knapp ueber Wasser und eilig paddelnd. Ich war froh, jaulte er nicht und schwamm irgendwann endlich direkter auf die Insel zu. Er wuerde es schaffen, wussten wir nach ein paar Augenblicken. “Idiot”, zischten wir boese ueber den Mechaniker. Was ist das fuer eine Gnade, aus Prinzip “nie” aber “beinahe” umgebracht zu werden?
Ich stand noch einige Minuten am Pier und hielt nach dem Tier Ausschau. Ich frage mich immer noch, ob ich hinausgeschwommen waere, um es dort rauszuholen, waere es wirklich noetig gewesen. Nun? Waere ich, waere ich nicht? Zum Glueck muss ich das nicht beantworten, denn der Hund lebt jetzt auf Long Island …

Die Schneiderkatze

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 7:42 pm

Eines schwuelen Abends auf den Andamaneninseln liefen wir bereits im Dunkeln die betongepfadete Strecke ins Inseldorf hinunter. Wir waren derzeit auf Long Island, einer kleineren, menschenleeren Insel. Das Dorf bestand aus notduerftig gebauten Huetten und Bretterverschlaegen. Zu gewissen Tageszeiten glich die Siedlung einer verlassenen Goldminenstadt. Dort, in dieser verlassenen Ortschaft, oeffneten sich jedenfalls die Fenster und Ladentueren erst, sobald es dunkelte. Erst dann erwachten die Buden zu Leben und knatterte aus Transistorradios der letzte Bollywoodhit.
An jenem Abend bedurfte ich eines Schneiders, um an meinem Lunhgi (Wickeltuch, ueblicherweise von Maennern getragen) einen Saum naehen zu lassen. Tatsaechlich fanden wir zwei Schneider im Dorf. Der Juengere hatte seinen Laden ziemlich voll, auch quoll es daraus an Stoffen nur so hervor. Der Aeltere hingegen stand in einem puppenstubenkleinen Lokaelchen. Seine lange weissgekleidete Gestalt wiegte sich langsam, waehrend er mit dem Buegeleisen einen dicken Stoff glaettete. Bei ihm spielte ein rotes Kaetzchen mit einem Fadenknaeuelchen auf dem Schneidertisch. Unter der Tischplatte schielte ein Hund hervor.
Wortlos trat der Schneider einen kleinen Schritt auf mich zu und begutachtete den Lunghi, indem er ihn in der Luft entfaltete. Kein Wort war noetig. Auch nicht meine kurze Begruessung und der Hinweis auf den ausgefransten Stoffrand, der sich immer weiter in den schwarzen Stoff frass.
Der Schneider stellte das Buegeleisen zur Seite, wedelte langsam mit der Hand, was dem Kaetzchen galt, das dem heissen aufgerichteten Dreieck zu nahe kam, und eine deutliche Sekunde lang strich die lange trockene Hand ueber das rote feine Fell. Der Schneider setzte sich behende an die alte Tretnaehmaschine und zog von irgendwoher einen fast unsichtbaren Faden hervor. Er suchte mit grossen Augen das Nadeloehr. Das Kaetzchen pfoetelte nun fein gegen den Finger des Schneiders und den Faden, dann drehte es auf der Naehmaschine eine Runde und sprang auf den Boden. Der Hund, der sich vor Langeweile den Kopf auf die Pfoten gelegt hatte, wachte schlagartig auf und schlich langsam dem Kaetzchen hinterher, das aus dem Laden beinelte. Der Schneider hielt gerade einen Moment inne, er hatte das Oehr gefunden und den Stoff nun unter die Nadel gezogen. Ich sah den Hund im heimlichen Anlauf auf die Katze, welche sich schon buckelte, als ganz unerwartet ein langer Bambusstock aus dem Fenster auf den Hund hinabschnellte, so zischend und knallend, dass dieser laut aufheulte und von der Katze wegsprang. Der Hund wurde einsilbig an seinen Platz verwiesen, und das Kaetzchen trabte siegreich zurueck und sprang wieder auf den Schneidertisch. Der Schneider trat aufs Pedal und der schwarze Stoff glitt durch Daumen und Zeigefinger. Das Kaetzchen beobachtete, sprungbereit. Der Schneider drehte den Oberkoerper zur Seite, streckte sich zu einem Faden und rollte ihn zwischen den Fingern zu einem Kuegelchen. Das Kuegelchen legte er auf die stoffige Unterflaeche und spickte es lautlos weg. Das Kaetzchen frohlockte mit kleiner Kralle. Der Schneider fuhr fort. Der plumpe Huempu seufzte, der Arme. Dies war nicht seine Geschichte. Am Ende des sanften Stoffes schnitt der pharaonenhafte Schneider mit langer Schere den Faden entzwei.

March 27, 2010

Sengende Wuensche

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:05 am

Als wir in Tirupati ankamen, war es ein Uhr nachts. In der blau getuenchten Bahnhofshalle lagen Menschen kreuz und quer mit ihren Kindern, Buendeln und Decken auf dem Boden. Hunde streunten durch das Menschenlabyrinth, Essensreste und Pfuetzen aufleckend.
Noch konnten wir die Wunderkraft dieses Pilgerortes nicht erahnen. Mit muedem Blick nach langer blauer Zugfahrt nahmen wir die Hoffnungen auf ein Wunder ringsum wahr: Man war gekommen, koerperlich versehrt oder auch gesund, um dem schwarzen Gott Venkateshwara, Vishnus Reinkarnation, auf dem Berg zu huldigen und daraufhin einen Wunsch erfuellt zu bekommen.
Spaet nachts suchten wir nach einer Unterkunft. Alles schlief. Die Luft stand erbarmungslos still. Erste Tropfen ueber den Lippen. Endlich finden wir eine passable Unterkunft. Die Liftfluegel gehen auf, und Ganesha schaut in den Lift. Wir sind tropfnass. An Ganesha vorbei zur letzten Zimmertuer des Ganges. Der Ventilator brummt traege, man atmet, was man kann. Das Fenster laesst sich zunaechst nicht oeffnen. Atmen, atmen.
Nach einer lauen Dusche sinken wir traege aufs Bett. Der naechste Tag bricht an, nahtlos, ohne Uebergang. Die schwarze Hitze wird nun weiss, sengend, verbrennend. Phaeton muss zweifellos hier mit seinem Feuerwagen vorbeigestoben sein auf seiner ersten und letzten Abenteuerfahrt, die ganze Gegenden versengte. In einem Hotelrestaurant brummen die kleinen braunen Ventilatoren. Eine Fliege klebt an meinem kalten beschlagenen Glas. Die sandige Strasse vor der Fensterfront blendet. Die Menschheit da draussen ist bis auf wenige Ausnahmen vollstaendig kahl. Mir ist, als versenge die Hitze hier selbst die Haare. Frauen in Saris sehen ploetzlich etwas unheimlich aus. Kinder wirken ploetzlich wie kleine Greise und Greisinnen mit zu grossen Koepfen.

Tirupati Pilgrims

In Wahrheit ist der Gott der Grund fuer die Kahlheit. Er fordert Pilgerhaar, und das tonnenweise. Gegen Tonnen von Wuenschen. Was davon ist schwerer? Ein Haar oder ein Wunsch?
Fuer einen Wunsch opfert der Hindupilger sein ganzes Haar. Uebrig bleibt nur ein dunkler Streif entlang des Scheitels, der Sonne Brandmal.
Nach dem Fruehstueck wasche ich mir die Haende. Das Wasser ist so kochend heiss, dass ich mir beinahe die Finger versenge. Der schwarze Wassertank auf dem Dach muss kurz vor der Explosion stehen. Wir gehen die Treppen hoch aufs Dach. Da oben flimmert es. In einer Ecke an der Bruestung haeufen sich leere Schnapsflaschen. In der Mitte des Dachs steht ein grosser Holzofen, der stark raucht. Mehrere Maenner, schwarz von der taeglichen Arbeit unter dieser Sonne, feuern diesen mit Kokosnussschalen ein. Dahinter finde ich die Toiletten. Das Wasser in den Kuebeln ist warm. Es ist die Hoelle auf den Daechern, von denen man auf den Tempel hinunter sieht. Hier fanden wir die beste Aussicht.
Wir gehen langsam wieder in die Welt hinunter. Unsere Glieder, unsere Zungen sind lahm. Wir denken so weit, wie unsere Schritte reichen. Die Sonne hat uns. Sie durchleuchtet unsere Gedanken. Die Hitze zeigt uns so wie wir sind. Geschichten und Erinnerungen zerfallen, verlaufen. Es ist zu heiss fuer Geschichten. Die Sonne loescht so einiges aus, fuer eine Weile. Ich spuere Existenz. Selbst fuer die Liebe ist es zu heiss. Die Augen des schwarzen Gottes lasten ueberall auf einem.
Was bleibt einem infolge dessen anderes uebrig, als gleich den Glaeubigen einen Wunsch zu aeussern? “Bring uns fort von hier, grosser Venkateshwara, bring uns auf die fernen, luftig-feuchten Andamanen. Halte das Schiff auf, moege es einen Tag spaeter auf die hohe See auslaufen. Grosser, schwarzer Venkateshwara”, ich riss mir ein Haar aus, “bring uns weg von hier”.
Am Abend schauten wir von der Dachterrasse zum beleuchteten Goetterberg hinueber. Wie viele Menschen wohl an diesem Abend des dunklen Gottes ansichtig wurden? Und wir, die wir uns mit seinem Abbild ueber unserem Bett begnuegten.
Diesen Moment sitze ich in einer luftigen bastenen Huette, aehnlich einer Schmuckschatulle, auf den Andamanen und frage mich, wie schwer Wuensche wiegen. Der Gott sitzt nach wie vor in Tirupati und schweigt hierzu.

Blauer Zug

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:04 am

Vier Tage Pondicherry. Nun fahren wir gleich weiter nach Andhra Pradesh. Mit einem Bummlerzug. Um 23 Uhr, heisst es, kommen wir an in Tirupati. David sitzt auf der Bank am Perron. Ich schaue ihn durch die blauen Gitterstaebe an. Auf dem Sims steht der kleine Pappbecher mit dem Chai. Auf dem Sitz gegenueber liegt das Buch Ramayana fuer die Fahrt bereit. Noch ist das Abteil leer, und die Ventilatoren an der Decke stehen still. Man sieht den Sitzen an, dass sich taeglich unzaehlige Menschen hier einrichten. Auf den Sitz Nr. 49 mir schraeg vis-a-vis setzt man sich hundert Mal, oder zweihundert Mal? Es ist das leerste Abteil, das ich je gesehen habe. Noch nie habe ich solche Leere, Stille in Indien erlebt, dass es mir auffiel, dass sie fast “laut” war. Die Stille erzaehlt hier ihre Geschichten. Ich versuche sie mir ganz fest einzupraegen. Wozu, weiss ich nicht. Ich will sie einfach behalten. Ein zweiter Passagier betritt das Abteil. Es ist ein kleiner aelterer Mann im weissen Hemd. Kurz darauf folgt seine Frau im orangen Sari. Die Nr. 49 natuerlich immer noch leer. Drei Flecken hats dort auf dem Sitz. Der dunkelblaue Plastikbezug ist stark abgeschossen. Ein Passagier, ein Kind, hat daran immer weiter rumgekratzt – ganz beilaeufig, in Gedanken versunken, waehrend der Fahrt. Eine grosse wuchtige Frau gesellt sich zur kleinen Gruppe. Die offene Seite des Saris laesst zwei grosse regelmaessige Bauchwuelste sehen. Einige Minuten spaeter hat sie die Arme wie zwei Riesenschlangen um den Kopf geschlungen und schlaeft, den schweren Kopf auf die kleine Reisetasche gebettet. Nordindische Touristen mit Rollkoffern gehen ernsthaft am Fenster vorueber. Die Maenner sind glattrasiert und tragen gefaerbtes Haar. David hat an uebersehbarer Stelle einen blauen Schalter auf blauer Wand gekippt. Die Ventis laufen. Maenner starren ins Abteil. Nieamand spricht. David erhaelt einen Anruf. Es ist Kumar, unser Nachbar von der Breitenrainstrasse. Alle Typen schauen gebannt beim Telefonieren zu. Kumars Mutter lebt in Pondi. Wir hatten eine falsche Nummer gehabt und konnten sie deshalb nicht besuchen. Als Kumar anrief, um die richtige mitzuteilen, war es also leider zu spaet.
Eine schwangere Frau, ganz in Hellrosa sitzt auf Nr.49, neben ihr ein kleines Maedchen. Ein Mann wankt muehselig an meinem Fenster vorbei und laesst sich auf eine Bank fallen. Er ist nicht alt, doch seine Beine sind alt. Sie scheinen nur noch mit aeusserster Anstrengung den oberen Koerper tragen zu koennen. Zittrig streben sie auseinander, als waeren sie aus altem Holz. Die Fusssohlen eines Elefanten: Endlos gelaufen.
Das Abteil fuellt sich bis auf den letzten Sitz und die Gepaeckablage.
Waehrend der Fahrt teile ich einmal den Sitz mit einem Maedchen.
Auf Nr. 49 wechselten in den ersten Stunden die Fahrgaeste fuenf Mal, dann hoerte ich auf zu zaehlen. Tirupati erreichten wir weit nach Mitternacht.

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