Chinesische Sommerfrischler
Seit zwei Tagen sind wir erstmals in sechs Wochen so richtig auf dem Land. Sechs Wochen lang reisten wir meist durch grosse unbekannte chinesische Staedte. China, der Name ruft in meinem Bildergedaechtnis zwar stets dasselbe alte Bild hervor: Ein gruener Park mit roten Pagodengebaeuden und weissgeschminkte Menschen mit langen Aermeln. Es ist das Chinabild, das ich von irgendwelchen Tapetenmustern kenne. Wahrscheinlich Schloss Versailles, der chinesische Salon. In Wirklichkeit haben wir sehr viele moderne Grossstaedte gesehen. Spiegelnde Hochhaeuser, breite Strassen und endlose Shoppingmalls. Das Land widerfuhr uns nur waehrend Ueberlandfahrten im Bus und Zug. Auf diesen Fahrten sah man vor allem Maisfelder von Grossbetrieben. Der Mais hoert nirgends auf. Es handelt sich dabei um Tierfuttermais. Im Restaurant ist ein Teller Maissalad sogar relativ teuer. Nun sind wir endlich einmal hinter diese Maisfelder gefahren. Mit einem kleinen Bus sind wir von der naechstgroesseren Stadt Mingshui in das kleine Dorf Zhujiayu gefahren, das am Fusse eines felsigen Huegels liegt. Hier hoert die Strasse auf. Der bukolische Ort ist umgeben von einer neugebauten Ringmauer nach mittelalterlichem Stil. Als Besucher bezahlt man einen Eintritt von etwa 2 Franken. Dieses Dorf duerfte bis in die 70er oder vielleicht etwas spaeter ganz gewoehnlich in Stand gewesen sein. Mittlerweile ist ein Grossteil der Haeuser eingestuerzt oder unbewohnt. Viele Haeuser sind aus Lehm, manche auch gemauert. Das Dorf war einst vor Jahrhunderten ein Staedtchen waehrend der Ming und Qing Dynastie. Es wohnen wenige und vor allem aeltere Leute hier im Ort. Rund um die Haeusersiedlungen liegen noch einige Terrassenfelder am Hang, doch hier gibt es keine Landwirtschaft im groesseren Umfang. Die in den 40er Jahren erbaute Schule wird als Museum benutzt, wo ein paar Alltagsgegenstaende ausgestellt werden. Die Schule besteht aus mehreren Gebaueden mit dazwischenliegenden Innenhoefen. In der Naehe steht eine grosse Wand mit dem langsam abgewaschenen Portraet Maos, wovon die polierten Knoepfe seiner blauen Joppe am besten noch zu sehen sind. Ein so halbzerfallenes Doerfchen verstroemt natuerlich ganz besonders romantischen Charakter. Tatsaechlich ist dieser Ort tagsueber ein sehr beliebtes Reiseziel fuer die chinesische Mittelklasse, die mit Privatauto herfahren koennen. Die aelteren Frauen bringen am Vormittag allmaehlich ihre Eier, Omelettes, Getraenke und Souvenirs in Position und warten auf Besucher. Die wenigen Restaurants, die es gibt, sind am Abend voellig leer. Als wir ankamen verspiesen wir ganz einsam einen Teller Pfefferminze im Bierteig und Omelettes sowie Tomatensuppe. Heute Mittag hingegen war der Hof unserer Herberge voller Leute und es wurde alles moegliche aufgetragen. Der Tisch der Gaeste sah nach dem Essen aus wie nach einem mittelalterlichen Gelage im reichen Ueberfluss. Dunkle Limousinen rauschen hier auch an und schicke Damen und Herren kommen hier auch auf Wochenend- oder Ferienvisite. Ferien auf dem Lande. Das sei heutzutage gerade sehr angesagt bei denen, die sich etwas mehr leisten koennen, meinte ein chinesischer Geschaeftsmann kuerzlich zu uns. Die Leute hier im Ort freuts jedenfalls, denn das bedeutet ihre Lebensgrundlage. Die Haehne werden, bis zum Tag, an dem sie bestellt, gewogen und geschlachtet werden, in leider sehr engen Kaefigen gemaestet. Alles wird bereitgemacht fuer die Touristen auf dem Lande. Der Hahn wird frisch geschlachtet, und der Gast darf in die Kueche und Zutaten auswaehlen. Tagsueber laeuft man zur neuerbauten Betonpagoda. Dort oben erwartet einen unter spiritueller Musik eine Art moderner Tempel, der von einem aelteren Herrn und einem juengeren in traditionellem Kostuem bedient wird. Man bezahlt 2 Yuan, um auf die Pagoda zu steigen, die Aussicht zu sehen und die Taogoetter aus zu buntem Porzellan anzuschauen. Gegen 100 Yuan (ca. 18CHF) kann man an einem taoistischen Ritual teilnehmen. Ein junges Paerchen liess sich dazu hinreissen mehrmals den Stoessel gegen eine grosse Glocke zu schlagen, waehrend der Mann im Kostuem dazu etwas sehr laut rezitierte. Der junge Mann rieb danach eifrig an den Henkeln einer Kupferpfanne, damit ein Geraeusch entstand, Raeucherstaebchen wurden angezuendet und das junge Paerchen wirkte in ihrer Taetigkeit irgendwie sehr zeremonielos und ungeschickt. In pastellfarbenen Coddle-T-Shirts (Nachahmung von Lacoste) und Louis-Vuitton-Verschnitten wirken sie fast unecht in der Landschaft, oder wirkt die Landschaft unecht? Das Dorfleben und alte Traditionen sind wieder In. Halb vergessen wirkt dieser Ort und halb im Aufbruch zu einem populaeren Naherholungsgebiet.