March 27, 2010

Sengende Wuensche

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:05 am

Als wir in Tirupati ankamen, war es ein Uhr nachts. In der blau getuenchten Bahnhofshalle lagen Menschen kreuz und quer mit ihren Kindern, Buendeln und Decken auf dem Boden. Hunde streunten durch das Menschenlabyrinth, Essensreste und Pfuetzen aufleckend.
Noch konnten wir die Wunderkraft dieses Pilgerortes nicht erahnen. Mit muedem Blick nach langer blauer Zugfahrt nahmen wir die Hoffnungen auf ein Wunder ringsum wahr: Man war gekommen, koerperlich versehrt oder auch gesund, um dem schwarzen Gott Venkateshwara, Vishnus Reinkarnation, auf dem Berg zu huldigen und daraufhin einen Wunsch erfuellt zu bekommen.
Spaet nachts suchten wir nach einer Unterkunft. Alles schlief. Die Luft stand erbarmungslos still. Erste Tropfen ueber den Lippen. Endlich finden wir eine passable Unterkunft. Die Liftfluegel gehen auf, und Ganesha schaut in den Lift. Wir sind tropfnass. An Ganesha vorbei zur letzten Zimmertuer des Ganges. Der Ventilator brummt traege, man atmet, was man kann. Das Fenster laesst sich zunaechst nicht oeffnen. Atmen, atmen.
Nach einer lauen Dusche sinken wir traege aufs Bett. Der naechste Tag bricht an, nahtlos, ohne Uebergang. Die schwarze Hitze wird nun weiss, sengend, verbrennend. Phaeton muss zweifellos hier mit seinem Feuerwagen vorbeigestoben sein auf seiner ersten und letzten Abenteuerfahrt, die ganze Gegenden versengte. In einem Hotelrestaurant brummen die kleinen braunen Ventilatoren. Eine Fliege klebt an meinem kalten beschlagenen Glas. Die sandige Strasse vor der Fensterfront blendet. Die Menschheit da draussen ist bis auf wenige Ausnahmen vollstaendig kahl. Mir ist, als versenge die Hitze hier selbst die Haare. Frauen in Saris sehen ploetzlich etwas unheimlich aus. Kinder wirken ploetzlich wie kleine Greise und Greisinnen mit zu grossen Koepfen.

Tirupati Pilgrims

In Wahrheit ist der Gott der Grund fuer die Kahlheit. Er fordert Pilgerhaar, und das tonnenweise. Gegen Tonnen von Wuenschen. Was davon ist schwerer? Ein Haar oder ein Wunsch?
Fuer einen Wunsch opfert der Hindupilger sein ganzes Haar. Uebrig bleibt nur ein dunkler Streif entlang des Scheitels, der Sonne Brandmal.
Nach dem Fruehstueck wasche ich mir die Haende. Das Wasser ist so kochend heiss, dass ich mir beinahe die Finger versenge. Der schwarze Wassertank auf dem Dach muss kurz vor der Explosion stehen. Wir gehen die Treppen hoch aufs Dach. Da oben flimmert es. In einer Ecke an der Bruestung haeufen sich leere Schnapsflaschen. In der Mitte des Dachs steht ein grosser Holzofen, der stark raucht. Mehrere Maenner, schwarz von der taeglichen Arbeit unter dieser Sonne, feuern diesen mit Kokosnussschalen ein. Dahinter finde ich die Toiletten. Das Wasser in den Kuebeln ist warm. Es ist die Hoelle auf den Daechern, von denen man auf den Tempel hinunter sieht. Hier fanden wir die beste Aussicht.
Wir gehen langsam wieder in die Welt hinunter. Unsere Glieder, unsere Zungen sind lahm. Wir denken so weit, wie unsere Schritte reichen. Die Sonne hat uns. Sie durchleuchtet unsere Gedanken. Die Hitze zeigt uns so wie wir sind. Geschichten und Erinnerungen zerfallen, verlaufen. Es ist zu heiss fuer Geschichten. Die Sonne loescht so einiges aus, fuer eine Weile. Ich spuere Existenz. Selbst fuer die Liebe ist es zu heiss. Die Augen des schwarzen Gottes lasten ueberall auf einem.
Was bleibt einem infolge dessen anderes uebrig, als gleich den Glaeubigen einen Wunsch zu aeussern? “Bring uns fort von hier, grosser Venkateshwara, bring uns auf die fernen, luftig-feuchten Andamanen. Halte das Schiff auf, moege es einen Tag spaeter auf die hohe See auslaufen. Grosser, schwarzer Venkateshwara”, ich riss mir ein Haar aus, “bring uns weg von hier”.
Am Abend schauten wir von der Dachterrasse zum beleuchteten Goetterberg hinueber. Wie viele Menschen wohl an diesem Abend des dunklen Gottes ansichtig wurden? Und wir, die wir uns mit seinem Abbild ueber unserem Bett begnuegten.
Diesen Moment sitze ich in einer luftigen bastenen Huette, aehnlich einer Schmuckschatulle, auf den Andamanen und frage mich, wie schwer Wuensche wiegen. Der Gott sitzt nach wie vor in Tirupati und schweigt hierzu.

Blauer Zug

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:04 am

Vier Tage Pondicherry. Nun fahren wir gleich weiter nach Andhra Pradesh. Mit einem Bummlerzug. Um 23 Uhr, heisst es, kommen wir an in Tirupati. David sitzt auf der Bank am Perron. Ich schaue ihn durch die blauen Gitterstaebe an. Auf dem Sims steht der kleine Pappbecher mit dem Chai. Auf dem Sitz gegenueber liegt das Buch Ramayana fuer die Fahrt bereit. Noch ist das Abteil leer, und die Ventilatoren an der Decke stehen still. Man sieht den Sitzen an, dass sich taeglich unzaehlige Menschen hier einrichten. Auf den Sitz Nr. 49 mir schraeg vis-a-vis setzt man sich hundert Mal, oder zweihundert Mal? Es ist das leerste Abteil, das ich je gesehen habe. Noch nie habe ich solche Leere, Stille in Indien erlebt, dass es mir auffiel, dass sie fast “laut” war. Die Stille erzaehlt hier ihre Geschichten. Ich versuche sie mir ganz fest einzupraegen. Wozu, weiss ich nicht. Ich will sie einfach behalten. Ein zweiter Passagier betritt das Abteil. Es ist ein kleiner aelterer Mann im weissen Hemd. Kurz darauf folgt seine Frau im orangen Sari. Die Nr. 49 natuerlich immer noch leer. Drei Flecken hats dort auf dem Sitz. Der dunkelblaue Plastikbezug ist stark abgeschossen. Ein Passagier, ein Kind, hat daran immer weiter rumgekratzt – ganz beilaeufig, in Gedanken versunken, waehrend der Fahrt. Eine grosse wuchtige Frau gesellt sich zur kleinen Gruppe. Die offene Seite des Saris laesst zwei grosse regelmaessige Bauchwuelste sehen. Einige Minuten spaeter hat sie die Arme wie zwei Riesenschlangen um den Kopf geschlungen und schlaeft, den schweren Kopf auf die kleine Reisetasche gebettet. Nordindische Touristen mit Rollkoffern gehen ernsthaft am Fenster vorueber. Die Maenner sind glattrasiert und tragen gefaerbtes Haar. David hat an uebersehbarer Stelle einen blauen Schalter auf blauer Wand gekippt. Die Ventis laufen. Maenner starren ins Abteil. Nieamand spricht. David erhaelt einen Anruf. Es ist Kumar, unser Nachbar von der Breitenrainstrasse. Alle Typen schauen gebannt beim Telefonieren zu. Kumars Mutter lebt in Pondi. Wir hatten eine falsche Nummer gehabt und konnten sie deshalb nicht besuchen. Als Kumar anrief, um die richtige mitzuteilen, war es also leider zu spaet.
Eine schwangere Frau, ganz in Hellrosa sitzt auf Nr.49, neben ihr ein kleines Maedchen. Ein Mann wankt muehselig an meinem Fenster vorbei und laesst sich auf eine Bank fallen. Er ist nicht alt, doch seine Beine sind alt. Sie scheinen nur noch mit aeusserster Anstrengung den oberen Koerper tragen zu koennen. Zittrig streben sie auseinander, als waeren sie aus altem Holz. Die Fusssohlen eines Elefanten: Endlos gelaufen.
Das Abteil fuellt sich bis auf den letzten Sitz und die Gepaeckablage.
Waehrend der Fahrt teile ich einmal den Sitz mit einem Maedchen.
Auf Nr. 49 wechselten in den ersten Stunden die Fahrgaeste fuenf Mal, dann hoerte ich auf zu zaehlen. Tirupati erreichten wir weit nach Mitternacht.

Smalltalk im Paradies

Filed under: Kochi - Irkutsk 2010 — sarah @ 11:03 am

Wir fuhren nach Kodaikanal. Es war eine Busfahrt wie manche. Der touristische Bergort zeigte sich zunaechst von seiner anstrengenden Seite. Wie immer, wenn man muede und krank ist. Wir fuhren aus der Stadt hinaus auf eine Farm. Eine Aussteigerfarm, die Karunafarm.

Karuna Farm, Kodaikanal

Ein paar Tage aussteigen: aus der Stadt in die Natur, aus dem Laerm in die Stille, aus der Reise mit all den Besichtigungen in eine scheinbare Sesshaftigkeit mit einem stagnierenden Bild. Das Bild: Eine kleine Huette auf einem Huegel und eine Aussicht auf einen dicht bewachsenen Hang, der sich gegen die heissen Ebenen Tamil Nadus hinunterzieht. Hibiskusblueten, Kaffeestraeucher, Zitronen. Wir sitzen vor dem Huettchen, spielen Schach. Zu reden gibt es wenig. Es ist alles so klar. Keine Langweile, kein Sehnen. Abundzu kochen wir Zuckerbananen. Lesen am schattigen Bach. Auf die Ebenen hinunterschauen von einem grossen Felsen aus.
Es gibt verschiedene Leute auf der Farm. Alle in ihren verstreuten Huettchen. Abends trifft man sich, man isst, redet.
Nevil gehoert die Farm, er leitet sie als Besucherort. Einen Tag nach unserer Ankunft wandert er im weissen Lunghi und mit Wanderstab den Huegel hoch, richtung Bushaltestelle im nächsten kleinen Weiler. Er faehrt zur Kumbh Mela in Nordindien.
Die Farm ist nun seinen nepalesischen Gehilfen ueberlassen. Manchmal ruft er sie abends an.
Eine richtige Gemeinschaft trifft man auf der Farm allerdings nicht an. Zwar verleben manche Leute tatsaechlich eine laengere Zeit hier, doch die meisten reisen bald weiter. Ein englisches Paar hingegen lebt mehrere Monate im Jahr dort und ist dabei, ein sehr schoenes Yogahaus aus Lehm, Kokosfaser und Ziegeln zu bauen. Ich haette gerne mitgeholfen die paar Tage. Die Idee gefiel mir und v.a. die Umsetzung. In der Woche war ich aber zu krank und war mit der taeglichen Huegelwanderung am Hang bereits genug beschaeftigt.
Die Farm zieht ganz verschiedene Leute an. Im Kern ist die temporaere Zweckgemeinschaft stark links alternativ. In diesem Kern der Karunafarm sah ich vor allem die Vision des wahren, richtigen Lebens. Das Sharing dieser Vision basiert auf einer Art Rhythmus. Das heisst, wenn man mit diesem mitgeht, gehoert man zur Community.
Eines Abends sassen wir vor dem Haeuschen, das ein nordindisches Paerchen bewohnte. Der Mond stand senkrecht ueber uns und dem Lagerfeuer, wo wir eben gemuetlich Kartoffeln und Bananen mit Schokolade gebraten hatten. Jetzt ist es ein Moment lang still im Kreis der Unbekannten. Smalltalk plaetschert: “Indian food is so unhealthy”, “oh that poppy is sooooo cute”, “how long does it take to get to the bus stand on foot?”, “oh you know, i hate shopping, but i have to, because these chips are so fucking tasty …”, “oh fuck, these bananas were sooooo good” – “oh yeah man, they were really fucking good”. Im Hintergrund laeuft Thievery Cooporation. Cool sound. Auf einem iPhone wird nun andere Musik abgespielt, HipHop bis zu Sentimental. Ein blondes Maedchen, das sich tagsueber eher still zeigte, sitzt mit langem aufgeloesten Haar im Schneidersitz und beginnt zur Hintergrundmusik zu erzaehlen: “I ran away from home, when I was six”, sagt sie und laechelt traurig. “And also now, I don’t really know, if I will be able to go back home to South Africa. It is still a nazi system there.” Ihr Nachbar nickt langsam und sagt: “How is it in South Africa? You still feel the remainings of the former Apartheid system?”-“Oh, yeeeeah, definitely. It is so …”. Am Ende wird er ihr sagen, dass er noch nie in Afrika war, aber als erstes nach Rwanda reisen moechte. Die Musik hat laengst schon eine Wende genommen: Einer klimpert auf einer verstimmten Gitarre Bob Marley und einige singen dazu.
“Money makes mankind evil.”- “The problems are not about things. Money cannot be evil, it is the people.” Ein Joint macht die Runde. Jemand beginnt auf etwas zu trommeln, jemand spielt Mundharmonika, die Suedafrikanerin stimmt mit geschlossenen Augen einen heulenden irgendwie altgaelischen Gesang an (aehnlich wie die Saengerin von den Cranberries).
Der Typ mit der Gitarre fragt David: “How long have you guys been here?” – “Oh, quite a time, but not too long. One week. After tomorrow we are going to leave”. – “Quite a time, huh? You call that quite a time – one week,” meint er, weil er selber hier Monate verbringt.
Als waere uns das Paradies verwehrt? Dabei sind wir doch hier, jetzt gerade. Wenn auch nur eine Woche. Doch was ist Zeit? Das ist ja das Schoene. “Unsere” Zeit ist nicht einfach objektiv, sie steckt irgendwo tief in uns drin. Sie misst in gefuehlten Kilometern, durstigen Schritten auf Staubstrassen, durchfeierten Naechten, Runden in einem verirrten oder gluecklichen Slalom durch den Wald.
Irgendwo sitzt in uns der gute Meister Hora aus Michael Endes Erzaehlung “Momo”. Es gibt eine Zeit, und die gehoert uns.
Wir sitzen also im Paradies und haben sogar gerade Zeit.
Was fuehrt man fuer Gespraeche im Paradies? Redet man ueberhaupt? Fuehrt man tiefsinnige Gespraeche? Und wenn, ueber was?
In diesem Kreis spricht man ueber den negativen Kapitalismus, Apartheit, Rwanda, die eigene Orientierungslosigkeit, Sinnsuche. Die Blonde ruelpst lange und laut. Die kleine Feine ist bereit an diesem Abend ihr Innerstes nach aussen zu stuelpen.
David und ich schauen uns hie und da an. Wir moegen irgendwie nicht so richtig. Zu reden gibt es nichts. Zu schoen hier. Wir verabschieden uns nach einer Weile, verlieren ein paar Worte ueber das gemuetliche Essen zuvor und gehen zurueck. Das Paradies ist wortlos. Langweilig, vielleicht. Darum wahrscheinlich spricht man, wenn, dann ueber die Hoelle.