Smalltalk im Paradies
Wir fuhren nach Kodaikanal. Es war eine Busfahrt wie manche. Der touristische Bergort zeigte sich zunaechst von seiner anstrengenden Seite. Wie immer, wenn man muede und krank ist. Wir fuhren aus der Stadt hinaus auf eine Farm. Eine Aussteigerfarm, die Karunafarm.
Ein paar Tage aussteigen: aus der Stadt in die Natur, aus dem Laerm in die Stille, aus der Reise mit all den Besichtigungen in eine scheinbare Sesshaftigkeit mit einem stagnierenden Bild. Das Bild: Eine kleine Huette auf einem Huegel und eine Aussicht auf einen dicht bewachsenen Hang, der sich gegen die heissen Ebenen Tamil Nadus hinunterzieht. Hibiskusblueten, Kaffeestraeucher, Zitronen. Wir sitzen vor dem Huettchen, spielen Schach. Zu reden gibt es wenig. Es ist alles so klar. Keine Langweile, kein Sehnen. Abundzu kochen wir Zuckerbananen. Lesen am schattigen Bach. Auf die Ebenen hinunterschauen von einem grossen Felsen aus.
Es gibt verschiedene Leute auf der Farm. Alle in ihren verstreuten Huettchen. Abends trifft man sich, man isst, redet.
Nevil gehoert die Farm, er leitet sie als Besucherort. Einen Tag nach unserer Ankunft wandert er im weissen Lunghi und mit Wanderstab den Huegel hoch, richtung Bushaltestelle im nächsten kleinen Weiler. Er faehrt zur Kumbh Mela in Nordindien.
Die Farm ist nun seinen nepalesischen Gehilfen ueberlassen. Manchmal ruft er sie abends an.
Eine richtige Gemeinschaft trifft man auf der Farm allerdings nicht an. Zwar verleben manche Leute tatsaechlich eine laengere Zeit hier, doch die meisten reisen bald weiter. Ein englisches Paar hingegen lebt mehrere Monate im Jahr dort und ist dabei, ein sehr schoenes Yogahaus aus Lehm, Kokosfaser und Ziegeln zu bauen. Ich haette gerne mitgeholfen die paar Tage. Die Idee gefiel mir und v.a. die Umsetzung. In der Woche war ich aber zu krank und war mit der taeglichen Huegelwanderung am Hang bereits genug beschaeftigt.
Die Farm zieht ganz verschiedene Leute an. Im Kern ist die temporaere Zweckgemeinschaft stark links alternativ. In diesem Kern der Karunafarm sah ich vor allem die Vision des wahren, richtigen Lebens. Das Sharing dieser Vision basiert auf einer Art Rhythmus. Das heisst, wenn man mit diesem mitgeht, gehoert man zur Community.
Eines Abends sassen wir vor dem Haeuschen, das ein nordindisches Paerchen bewohnte. Der Mond stand senkrecht ueber uns und dem Lagerfeuer, wo wir eben gemuetlich Kartoffeln und Bananen mit Schokolade gebraten hatten. Jetzt ist es ein Moment lang still im Kreis der Unbekannten. Smalltalk plaetschert: “Indian food is so unhealthy”, “oh that poppy is sooooo cute”, “how long does it take to get to the bus stand on foot?”, “oh you know, i hate shopping, but i have to, because these chips are so fucking tasty …”, “oh fuck, these bananas were sooooo good” – “oh yeah man, they were really fucking good”. Im Hintergrund laeuft Thievery Cooporation. Cool sound. Auf einem iPhone wird nun andere Musik abgespielt, HipHop bis zu Sentimental. Ein blondes Maedchen, das sich tagsueber eher still zeigte, sitzt mit langem aufgeloesten Haar im Schneidersitz und beginnt zur Hintergrundmusik zu erzaehlen: “I ran away from home, when I was six”, sagt sie und laechelt traurig. “And also now, I don’t really know, if I will be able to go back home to South Africa. It is still a nazi system there.” Ihr Nachbar nickt langsam und sagt: “How is it in South Africa? You still feel the remainings of the former Apartheid system?”-“Oh, yeeeeah, definitely. It is so …”. Am Ende wird er ihr sagen, dass er noch nie in Afrika war, aber als erstes nach Rwanda reisen moechte. Die Musik hat laengst schon eine Wende genommen: Einer klimpert auf einer verstimmten Gitarre Bob Marley und einige singen dazu.
“Money makes mankind evil.”- “The problems are not about things. Money cannot be evil, it is the people.” Ein Joint macht die Runde. Jemand beginnt auf etwas zu trommeln, jemand spielt Mundharmonika, die Suedafrikanerin stimmt mit geschlossenen Augen einen heulenden irgendwie altgaelischen Gesang an (aehnlich wie die Saengerin von den Cranberries).
Der Typ mit der Gitarre fragt David: “How long have you guys been here?” – “Oh, quite a time, but not too long. One week. After tomorrow we are going to leave”. – “Quite a time, huh? You call that quite a time – one week,” meint er, weil er selber hier Monate verbringt.
Als waere uns das Paradies verwehrt? Dabei sind wir doch hier, jetzt gerade. Wenn auch nur eine Woche. Doch was ist Zeit? Das ist ja das Schoene. “Unsere” Zeit ist nicht einfach objektiv, sie steckt irgendwo tief in uns drin. Sie misst in gefuehlten Kilometern, durstigen Schritten auf Staubstrassen, durchfeierten Naechten, Runden in einem verirrten oder gluecklichen Slalom durch den Wald.
Irgendwo sitzt in uns der gute Meister Hora aus Michael Endes Erzaehlung “Momo”. Es gibt eine Zeit, und die gehoert uns.
Wir sitzen also im Paradies und haben sogar gerade Zeit.
Was fuehrt man fuer Gespraeche im Paradies? Redet man ueberhaupt? Fuehrt man tiefsinnige Gespraeche? Und wenn, ueber was?
In diesem Kreis spricht man ueber den negativen Kapitalismus, Apartheit, Rwanda, die eigene Orientierungslosigkeit, Sinnsuche. Die Blonde ruelpst lange und laut. Die kleine Feine ist bereit an diesem Abend ihr Innerstes nach aussen zu stuelpen.
David und ich schauen uns hie und da an. Wir moegen irgendwie nicht so richtig. Zu reden gibt es nichts. Zu schoen hier. Wir verabschieden uns nach einer Weile, verlieren ein paar Worte ueber das gemuetliche Essen zuvor und gehen zurueck. Das Paradies ist wortlos. Langweilig, vielleicht. Darum wahrscheinlich spricht man, wenn, dann ueber die Hoelle.