Neulich im Zug
Es war ein Sonntagabend. Ich bestieg am HB Zürich den Schnellzug nach Bern. Ich überlegte etwas länger als sonst, ob ich oben oder unten sitzten sollte und nahm schliesslich neben der Gepäckablage in einem Viererabteil platz. Etwas lustlos nahm ich mein Buch hervor und begann etwas darin zu lesen, als plötzlich drei junge Männer ins Abteil kamen und sich etwas unsicher zu mir setzen und dann doch rücksichtsvoll auf mein und eine anderes Sitzabteil aufteilen wollten. Ich sagte ihnen, sie können ruhig zusammen neben mir sitzen, es würde mich nicht stören. Sie sprachen in einer fremden Sprache. Ich hielt sie für Zentralasiaten, konnte aber ihre Sprache keinem mir dort bekannten Land zuordnen. Zu dieser Zeit dachte ich schon längst nicht mehr an die Zeilen in meinem Buch und klappte es daher auch bald einmal zu. Der, welcher gegenüber von mir sass, las murmelnd einen Text. Er hatte einen pakistanischen Basmatireissack dabei. Das machte mich schmunzeln, weil ich auch mal überlegt hatte den als Tasche zu verwenden. Irgendwann dann müssen wir ins Gespräch gekommen sein. Ich fragte sie, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Es sei Farsi, denn sie seien aus dem Iran bzw. einer aus dem türkischen Grenzgebiet zum Iran. Wir unterhielten uns also etwas über den Iran. Ich kenne viele Leute, die kürzlich dort gewesen waren, einschliesslich mein Freund, und interessiere mich generell für diese Region. Ich erzählte, wo ich in letzter Zeit so gewesen bin, dass ich auf dem Rückweg aus Georgien in der Türkei gewesen war. Deshalb fragte ich, von wo der eine genau stamme, ob er in der Nähe von Kars aufgewachsen sei. Eigenartigerweise kannte er Kars nicht, was mich sehr erstaunte, zumal er sich als Kurde ausgab. Dass er nicht wie ein Kurde aussah, schwante mir , aber man gibt sich meistens nicht ungläubig, wenn jemand seine Volkszugehörigkeit verrät. Es kam mir manchmal vor, als ob sie mir geschickt in gewissen Fragen auswichen, gerade dann, wenn ich wissen wollte, wo sie denn studiert hatten und wie die Lage denn früher gewesen war und wie sie heute aussieht. Die Unterhaltung war natürlich an und für sich sehr nett , sonst hätten wir auch gar nicht soviel reden können, denn die Zeit verstrich im Eilzug. Die drei jungen Männer waren sehr sympathisch und v.a. höflich. Offensichtlich weilen sie noch nicht so lange in der Schweiz. Ich schien eine der ersten Personen zu sein, mit denen sie sich ausführlicher unterhielten. Die Unterhaltung war eigentlich nur mit einem der drei in Englisch möglich, und dieser übersetzte jeweils seinen Freunden. Der andere konnte schon etwas Deutsch. Sie waren offensichtlich auch noch etwas unsicher, wie sie sich mit einer Frau unterhalten sollen. Ganz offen meinte einer von ihnen: “Entschuldige, wenn ich dich beim Reden noch nicht anschaue, das ist für uns noch so ungewohnt. Aber ich gebe mir Mühe das zu lernen.” Da musste ich schon ziemlich lachen. Wir kamen auf die momentane politische Lage im Iran zu sprechen, auf Amerika und natürlich Afghanistan und Irak. Als ich Afghanistan sehr bedauerte und vor allem den Untergang einer ganzen Kultur, stellte ich fest, wie alle drei mich gebannt anschauten. Ich fand, es sei traurig, dass Afghanistan oftmals fälschlicherweise mit Terrorismus in Verbindung gebracht und das Land als solches mit seiner ehemals sehr säkulären Kultur beinahe vergessen werde. Der, welcher sich als Kurde ausgegeben hatte, schaute mich an, sagte merkwürdig beherzt: “Bravo, dasselbe fühlen wir auch.” Naja, meinte ich, so würden viele andere Menschen hier eigentlich auch denken. Dann meinte er, sie müssten mir etwas gestehen. Sie hätten mich angelogen. Sie seien gar keine Iraner bzw. Kurden, sondern Afghanen. Natürlich war ich ganz konsterniert. Zuerst musste ich lachen, weil irgendwas bei der ganzen Unterhaltung ja nicht reingepasst und es zuviele Ungereimtheiten gegeben hatte. Dann fragte ich sie, warum sie sich denn als Iraner ausgeben. Als Afghane habe man doch einen eher schlechten Ruf. Erst kürzlich habe man ihn als “Tourist” beschimpft. Ich muss wie ein Fragezeichen im Raum gestanden haben. “Was ist denn in der Schweiz bitteschön schlimm daran Tourist zu sein?” Auf diese Frage schauten sie mich wiederum mit grossen Augen an. Es ging noch eine Weile so hin- und her, bis ich zuguterletzt verstand, was sie mit dem absurden “Touristen” meinten. Terrorist. Ich glaube man wird mir doch hier zustimmen, dass es sich also um einen sehr tumben, sogar vernachlässigbaren Schweizer gehandelt haben muss, welcher ihn aufgrund des “Afghanentums” als Terroristen beschimpfte. Ebenso hoffe ich, dass meine Behauptung, dass viele Schweizer über einen etwas differenzierteren Blick und ein etwas sensibleres Verhalten verfügen, wahr ist. Auch das kann angezweifelt werden. Ich konnte es kaum glauben, dass drei Afghanen vor mir sassen und sich allen Ernstes aus Vorsicht als Iraner ausgaben, weil Farsi ihrer Landessprache Dari ja ganz nahe steht. Ist das wirklich die Möglichkeit? Oder war das auch eine Geschichte? Die Begegnung wirkte dennoch rührend. Sie entschuldigten sich tausendmal dafür, dass sie mir nicht von Anfang an die Wahrheit erzählt hatten. Sie hätten ja nicht ahnen können… und so weiter. Der, welcher sich als Kurde ausgab, war schliesslich ein Hazara, ein Angehöriger einer Minderheitengruppe in Afghanistan. Ich insistierte etwas naiv, dass momentan der Film “The Kite Runner” in den Kinos gezeigt werde, in dem es unter anderem um einen Hazara-Jungen gehe. So quasi: So ganz egal ist uns euer Land auch wieder nicht. Der Name des Buchautoren Khaled Housseini schien in ihm zwar eine Erinnerung zu wecken, doch ich erfuhr nicht mehr, ob er die Geschichte kannte. Wir fuhren in Bern ein.Wir verabschiedeten uns auf dem Bahnsteig. Das war eine kurzweilige Fahrt der unglaublichen Geschichten.