Novosibirsk und Signora Elenas unglaubliches Kuechenland
Ankunft in Novosibirsk im anbrechenden Morgen. Wir konnten direkt im Bahnhof selber in einem Poluljuks Zimmer (Halbluxus Zimmer) uebernachten. Wenn wir aus dem Zimmer rauskamen, standen wir auf einer Bruestung und blickten auf einen riesigen schoenen Wartsaal hinunter. Es kam mir vor, als wuerden wir auf einer Kirchenempore uebernachten. Der sog. Halbluxus zeigte sich damit, dass es kein echtes WC gab, sondern eine Campingtoilette. Ansonsten war das Zimmer riesig, mit allen Schikanen. Am Nachmittag trafen wir Karin, die einen guten Monat in Novosibirsk verbrachte, dort bei einer Soziologin ein Praktikum in der Bibliothek machen und gleichzeitig bei deren Mutter wohnen konnte. So wurden wir von Karin fuer ein paar Tage in die Wohnung von Elena eingeladen, mit der Vorwarnung, dass man sich in den Buecher- und Geschirrtuermen verlaufen koenne. Wir fuhren in das Akademgorodok (Akademisches Staedtchen), etwa 40 Minuten mit der Marschrutka. Dieser Ort ist am Obsee gelegen, einem Reservoir des Ob, mitten im Nadel- und Birkenwald. Es ist das wissenschaftliche Zentrum von Sibirien und hat studentisches Flair.Der Ort ist ungewoehnlich, da er irgendwie wie ein riesiger Campus wirkt, andererseits dort verschiedenste Leute wohnen. Elena und ihre Tochter Tatjana sowie deren Mann wohnen in zwei Wohnungen mit einer Verbindungstuer. Wie wir reinkamen in das – ich nenns “intellektuelle”- Paradies, sahen wir zuerst eine hohe vollgepackte Buecherwand, davor noch Kisten mit Buechern. Daneben einen grossen Milchkontainer, bis oben voll mit Honig. Ein Kuehlschrank mit Schreibsachen und Papierchen, Hueten und Kalendern drauf, stand in der Ecke, fast die Durchgangstuer verdeckend. An der Wand zwischen Tuermen von weiteren Sachen – ein Garderobenspiegel mit ganz vielen bunten Ketten behaengt. Karin zeigte uns das Zimmer, wo wir zu dritt drin schlafen wuerden. Wuchernde Pflanzen auf dem Fenstersims. Eine, die sich von der Decke sogar auf das Bett herunterringelt, und rundherum Buecher, Buecher, Buecher… Antike Philosophie, Sowjetgeschichte, Krimiautorinnen, Mark Twain… Da lag noch so eine Schachtel rum, wie eine Pizzaschachtel, das habe ich nicht so ganz begriffen, da war ein Bild von Dostojewskij draufgeklebt. Dostojewskij Pizza Service? Jedenfalls kamen wir in die Kueche, und ich wusste, das war nun das Schlaraffenland. Davon hatte ich als Klein gelesen. Das Land, wo es keine Rolle spielt, ob du nun 3 oder zehn Tomaten isst, denn die Schuessel spuckt immer neue aus. Die Broetchen fallen vom Himmel, das Huhn fliegt gebraten durch die Luft, die Kirschen und Aepfel wachsen zum Fenster herein. In der sehr hohen Kueche, stand in der Mitte ein grosser quadratischer Tisch, bei leeren Zeiten war ein kariertes Tischtuch zu sehen, ansonsten stand dort immer eine volle Salatschuessel, Teetassen, Kannen, Loeffel, ein Korb voller Brot, ein Becken voll von frischem Gartengemuese. An den Knaeufen der Einbauschraenke hingen Saecke voll mit Nuessen, Aepfeln, Bonbons… Ueber den Tisch schaute man sich durch lange Pfannen- und Tellerschluchten an, und fast hoerte man sein eigenes Echo. Die Suppe schlummerte brodelnd die ganze Zeit vor sich hin, im riesen Topf. Elena, die kleine Signora, die vor wenigen Jahren zur Katholikin geworden war, Liebhaberin der italienischen Sprache und italienischer Lieder, verschwand zuweilen hinter ihrem ganzen Werk. Die Pflanzen auf dem Sims daempften das Licht in der Kueche. Man hatte beim Essen unbedingt immer einen Gemuesetopf oder einen Vorratssack zwischen den Beinen. Nachts, ich konnte nicht schlafen, schlich ich mich in die Kueche und las dort volle drei Stunden. Diese Kueche und Elena, die mir beherzt die Romanze Santa Lucia vorsang, werde ich nie vergessen koennen. Es war herrlich schoen dort.