Fahrt nach Semipalatinsk
Am Nachmittag stiegen wir in den Zug nach Almaty. Der Zug war auf diesem Perron riesenhoch, wir mussten richtig in den Wagen reinklettern mit unseren Rucksäcken. Zum ersten Mal hatten wir Plätze im Coupé (separates Viererabteil), da nichts anderes mehr vorhanden war. Es kostete aber wesentlich weniger als üblicherweise ein Coupé in Russland kostet.
Nach einer Weile, wir hatten bereits die Bücher rausgenommen und lasen, kamen zwei Frauen zu uns ins Abteil. Mutter und Tochter wie sich bald herausstellte. Sie hatten beide ganz dunkles Haar, das Mädchen hatte Augen, die unglaublich unter einer scharfen Augenbrauenlinie hervorleuchteten, grün-türkis und blau. Ihr Blick kippte immer zwischen kritischer Aufmerksamkeit und heller Freude hin und her. Als sie bemerkten, dass wir nicht Russe und Zigeunerin, wie sie anfangs annahmen ; ), waren, sondern hörbar irgendein anderes Kauderwelsch sprachen, wurden sie neugierig.
Sie fanden es anscheinend ganz verrückt mit Schweizern im Zugabteil zu fahren, denn noch nie hätten sie die Gelegenheit gehabt sich mit Ausländern aus Europa zu unterhalten, wenn sie das in ihrem Dorf erzählen würden, würden die dort ihnen das kaum glauben.
Wir fanden es aber mindestens eine so schöne Begegnung wie die beiden, denn noch nie hatten wir die Gelegenheit uns mit Gastarbeiterinnen in Russland zu unterhalten, die sich gerade auf dem Heimweg befanden. Wahrscheinlich fanden sie sich so unexotisch dabei, in diesem Zug nach Kasachstan, wie wir uns : ).
Die Frau, deren Name ich nicht erfuhr, und ihre Tochter Susanna sind Türkinnen und sprechen auch türkisch, sind aber seit Geburt Bürger Kasachstans. Sie nennen die Türkei ihre Heimat, in der sie noch nie waren. Sie fuhren über die Ferien nach Hause in ihr Dorf unweit von Shymkent, im Süden Kasachstans.
Die beiden arbeiten in Novosibirsk in einem Supermarkt. Susanna ist sechzehn und kam mit vierzehn nach Russland, um ihrer Mutter zu helfen. Zwei Jahre war sie nicht zuhause. Sie würden vielmehr verdienen in Russland als in Kasachstan, sagte die Frau. Es stellte sich heraus, dass sie noch einen Sohn hat und seit einigen Jahren alleinstehend ist.
Das war der Einstieg in eine längere Erzählung: Sie selber stammt aus einer kinderreichen türkischen muslimischen Familie. Wie viele andere Frauen wurde sie auf Absprache zwischen Eltern und Bräutigam verheiratet, und nicht mit dem Mann, den sie gern hatte. In Zentralasien existierte lange, und in neuerer Form auch heute noch, der Brauch des Frauenraubs.
In ihrer Erzählung kam er etwas anders vor, dass ihr zukünftiger Mann sich das Einverständnis ihrer Mutter holte und sie nachher auf der Strasse im Auto mitnahm. Im Wagen eröffnete er ihr, dass er sie heiraten werde. Sie sass sozusagen in der Falle.
Neun Jahre sei sie verheiratet gewesen, unglücklich und unzufrieden. Sie lebte im Haus des Mannes, wo dessen Mutter und Geschwister und sonstige Familienmitglieder noch wohnten. Es sei langweilig gewesen, sagte sie, kochen, putzen für alle, immer zuhause sitzen und die Schwiegermutter ertragen, mit der sie es nicht gut gehabt habe. Vom Mann hätte sie keine Unterstützung bekommen, der Zusammenhalt in seiner Familie sei zu stark gewesen.
Irgendwann sei es unerträglich gewesen, sie habe ihre Kinder gepackt und sei zu ihrer Mutter, die sie mit Vorwürfen beworfen hätte, sie könne nicht mehr, es sei alles ihre Schuld. Die Mutter habe gesagt “Poterpi”, “erdulde es”. Sie hätte es aber nicht mehr gekonnt. Ihr Mann sei auch schon sehr unzufrieden geworden mit ihr.
Sie blieb mit ihren Kindern allein. Man verachtete sie, wie sie sagte, sogar in der eigenen Familie dafür. Ihr Bruder habe sich abgekehrt, und die Eltern rieten ihr anfangs die Kinder wegzugeben.
An der Stelle wurde die Erzählung wie auch sie sehr traurig, und ich hatte fast das Gefühl schon zuviel gehört zu haben.
“Ich habe aber Arbeit gesucht”, fuhr sie fort, “ich arbeitete als Köchin, als Hauswart und Vieles mehr, um mit den Kindern durchzukommen. Ein Bekannter riet mir in Russland zu arbeiten. So kam ich vor vier Jahren nach Novosibirsk.”
Ihr Leben scheint sich verändert zu haben in Russland. Sie sei eigentlich streng erzogen worden, Schweinefleisch, Alkohol, Schminke, lange Nägel sei alles nicht erlaubt. So wie Russinnen dürften sie sich nie geben, eigentlich fänden sie das selber auch nicht schön, so geschminkt mit gefärbtem Haar. Die Tochter rümpfte die Nase. Doch einige Sachen nehme man schon an. Im Winter auf dem Markt sei es einfach sehr kalt, im Durchzug, da trinke sie mit den anderen Frauen abundzu einen Vodka, wenn es sich ergäbe. Selber aus einem konservativeren Ort, ist sie und ihre Tochter schon sehr westlich modern gekleidet.
Ich fragte, ob sie sich umziehen müssen, bevor sie nach Hause kommen.
Sie schauten mich mit grossen Augen an: “Natürlich. Meine Güte, mein Vater würde mich verfluchen, würde er mich so sehen! Langärmlig müssen wir angezogen sein, und das Kopftuch müssen wir tragen. Sonst nennen sie uns Schlampen!”
Der Sohn, der jetzt vierzehn ist wohnt bei den Eltern, während Mutter und Schwester in Russland arbeiten. Wie denn jetzt das Verhältnis sei zwischen ihr und den Eltern und Verwandten, fragte ich. Besser sei es, sagte sie, denn sie käme für sich selber auf, verdiene viel Geld. Wahrscheinlich schämten die sich auch im Nachhinein. Was aber ein wesentliches Thema war, war die Verheiratung von Susanna. Sie müsse Geld haben, damit sich das Mädchen anständig verheiraten könne. Anscheinend kostet eine Hochzeit ein irrsinniges Geld, d.h. der Festschmuck für die Braut. Auf solche Dinge werde noch unheimlich viel Wert gelegt. Sie wolle das Mädchen aber erst verheiraten, wenn es jemanden gefunden habe, der ihr auch wirklich gefällt, auch wenn ihre eigene Mutter dränge, Susanna nun endlich zu verheiraten, sie wolle nur das Beste für das Mädchen.
Bildung fände sie auch wichtig, meinte sie, da konnte ich nur eifrig nicken, denn so dachte ich nämlich auch. Susanna schien mir nämlich als sehr intelligent, sprach sehr gut Russisch, lernte sehr gut Kasachisch und lernte auf dem Markt sogar Tadschikisch. Ob das wohl klappt mit Heirat und Weiterbildung?
Ich finde es wahnsinnig, dass sich ein Mädchen mit sechzehn bereits so langfristigen Entscheidungen wie Ehe stellen muss.
Zwischendurch kam ein Junge in unser Abteil, der mit ihnen reiste aber nicht in ihr Abteil konnte. Er guckte uns am Anfang auch ganz argwöhnisch an. Dann wollte er aber unbedingt mal unseren Schweizer Pass angucken, wir guckten dafür seinen schönen türkis Pass an. Als wir über den Ob fuhren, begann er plötzlich wild zu fuchteln an. “Hier beliefere ich die Schiffe mit Gemüse und Obst! Hier ist meine Arbeitsstelle. Ach, das ist der schönste Platz in Novosibirsk!” Das war ein Moment, der mich sehr rührte, jemanden so begeistert und stolz von seiner Arbeit reden zu hören. Sie sagten, sie arbeiten sehr gerne in Novosibirsk. Es sei sehr angenehm. Es störe sie auch nicht, dass es acht Monate kalt sei.
Irgendwann fuhr ein Speisewägelchen über den Zuggang, der mit türkis Teppich ausgelegt war. Der Junge bestellte ein Wasser und heulte vor Freude wieder auf, als er das heimatlicher Wasser aus seiner Region erkannte.
Die Gespräche und Ereignisse dauerten immer eine Weile, so dass ich David immer alles etwas später übersetzte. Er las in der Zwischenzeit den Indienroman Shantaram.
Ich konnte lange nicht einschlafen, schrieb irgendwie noch halb im Dunkeln, halb im Flur, wartete darauf, dass das Klo aufmachte, welches immer geschlossen wird kurz vor Bahnhofankunft und das oft gut 40 Minuten bleibt. So etwa in Barnaul.
Der Zug fuhr langsam, ruckelnd, mit rhythmischem taram-taram, welches ich mit Davids Handy aufgenommen habe. Evt. stelle ich das mal mit anderen Lebenssoundtracks auf den Blog ; ), eine Sound gallery.
Am frühen Morgen waren wir an der Grenze, wo der Zug lange stand. Es dauerte lange, bis unser Wagen untersucht wurde. Ich musste die Sitzfläche aufziehen und unser Gepäck zeigen, durchsucht wurde es aber nicht.
Im Zugabteil neben uns wurde eine Unruhe laut. Die russische Zollbeamtin war bereits hörbar. Es handelte sich um Kirgisen, die keine Migrationskarte besassen.
Offensichtlich handelte es sich um Schwarzarbeiter, sie mussten eine Busse bezahlen schlussendlich nach langem Hin-und-Her. Die Frau in unserem Abteil und Susanna hatten auch keine Migrationskarte, Susanna hatte auch noch keinen eigenen Pass. Sie bekamen eine Verwarnung, dabei blieb es zum Glück. Bei wiederholtem Kartenverlust könne es zur Verweigerung der Einreise kommen.
Susanna und ihre Mutter, so begriff ich, arbeiten wie viele schwarz in Russland, sind beide von einer Armenierin angestellt und wohnen zur Untermiete bei einer älteren Russin.
Der Morgen brach an. Wir rollten ins Steppenland, wo plötzlich gar keine Birken mehr zu sehen waren, die Sträucher immer rarer wurden, teilweise noch Kornfelder aufglänzten. Ich sagte David, dass es schön wäre durch dieses Steppenland zu reiten.
Fünf Minuten später schreit er nach mir! Aus dem anderen Zugfenster sieht man einen Mann auf einem Pferd in sprengendem Galopp Jungpferde vor sich treibend.
Ich machte einen Luftsprung und muss grad unglaublich gequitscht haben vor Aufregung, denn der junge Türke meinte, wir sollten doch unbedingt zu ihm zu Besuch kommen nach Shymkent, sie hätten auch ein Pferd, und oh, es sei so schön dort zu reiten! Alle lachten über den gutgemeinten Vorschlag. Es kam zum Fotoalbum, bzw. Tausenden losen Fotos… Viele von Sylvester in Novosibirsk, Susanna mit den Neffen von dem Jungen, dessen Schwester und Familie. Der Junge war eines von zehn Kindern, der Vater musste anhand des Bildes über siebzig schon sein. Er war weisshaarig und trug ein schwarzes Samtkäppchen.
Die Frau schenkte mir eine Foto von Susanna, worauf ich ihr ein etwas einfalloses Passfoto von mir schenkte. Sie gab mir noch ihre Adresse an, so kann ich ihr aus der entlegenen Schweiz einmal einen Brief mit Fotos schicken. Ich muss nur noch irgendwie den Postindex herausfinden von ihrem Dörfchen, den hatte sie vergessen. Dazu schenkte sie uns Gurken und Ghurt (wenn richtig geschrieben), getrockneten, gesalzenen Käse, der zu einer Kugel geformt ist und ein Jahrhundert haltbar ist. Nomadenkost für die Satteltasche ; ). Immer wieder kamen Leute ins Abteil, die Wechsel anboten “Tenge, Tenge”.
Ich lernte schön brav “rahmet”, danke, auf kasachisch und Elementares wie Su und Nan (Wasser und Brot), für den Notfall ; ), wobei hier alle Russisch sprechen natürlich. Nach Mittag rollten wir in den Semipalatinsker Bahnhof ein, wo wir uns verabschiedeten von den beiden und ihnen alles Gute wünschten für die noch lange Heimreise.
So standen wir in der Mittagshitze umringt von Ankömmlingen, fröhlichen Abholern am einfachen blauweissen Bahnhof. Die dominanten Farben in Kasachstan übrigens: Blau und Weiss. Der Himmel ist blau, der Steppenboden weiss. Die Häuser sind kalkig weiss, die Fensterrahmen tiefblau. Die Barrieren sind sogar blauweiss, die Geländer sind überall blau, auch fast jede Art von Gitter.
Manchmal wird diese Farbharmonie auch noch mit dem lautlosen Flug eines Falken unter stahlblauen Himmel vollendet. Ich schaue die Landesflagge an und staune darüber, wie ähnlich die Zeichen gewählt wurden. Es waren die ersten Dinge, die ich von Kasachstan sah: die Landesflagge und das weite Land angrenzend an noch weiteren blauen Himmel.