Die Bedeutung des Herz-Sutras im Hotel Nepal
Wie muss es gewesen sein, frage ich mich, in den fruehen Siebzigern, als erstmals antiimperialistische Weltentdecker an den Pokharasee gelangten? Laut Schilderungen haben sie eine bessere Welt entdeckt. Sie liessen sich nieder und lernten die Sprache der Einheimischen, lernten deren Lebensrhythmus, deren Bewegungen, Gesten. In dieser terra incognita gab es genug Freiraum fuer neue Lebensentwuerfe, naemlich, aus dem System, das als spezifisch westlich galt, imperialistisch und normierend, auszusteigen. Die konventionellen Huellen sollten fallen, und diese neugeborenen Menschen sahen sich an der Pforte des Paradieses.
Ein nahezu biblischer Flecken Erde, ein wilder Park mit Aepfeln, wo den Menschen noch hie und da goettliche Schauer befallen.
Eine uebliche Metapher fuer Unberuehrtheit, Unentdecktheit und fuer Reisende die Metapher fuer eine Reise der Suche nach geheimnisvollem und mythenumwobenem Ziel; sei es, dass ich gerade die goldenen Aepfel der Hesperiden oder einen alten Guru suche, der mir das Herz-Sutra lehrt … Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha …
“Gone gone, gone beyond, gone altogether beyond, O what an awakening, all hail!”
Aus den Traeumen aufgewacht, frage ich: Wo? Wo ist dieser Ort?
Der Weise, den ich vielleicht suchte, wuerde antworten wie zuvor: “Gate, gate”. Gone, gone.
Wo zum Teufel, und dessen Reich ist nicht minder umstritten, ist das alles hin? Wo sind die Hippies? Wo ist die sagenhafte “echte” Landschaft?
Wo natuerliche Ufer waren, wurde nun Erde aufgeschuettet fuer Pflasterpromenaden. Wo sich Reisfelder einem grossen Faecher gleich in Terrassen reihten, stehen infantil wie Baukloetze pinke Betonhotels. Pokhara ist, der antiimperialistischen Entdeckung zum Trotz, ein buergerlicher Moloch geworden. Schicke Wi-fi Cafes nach mondaener moderner Innenarchitektur und mit Illykaffee. Ein leicht alternativer Groove bleibt noch an den Huegeln der Stadt haengen, mit Yoga und Meditationsseminaren. Aber auch diese sind mittlerweile Teil der kommerziellen Touristenpalette. An die Strandpromenade des Paradieses Pokhara kommen die Einheimischen arbeiten, auch die Bettler. Die Bevoelkerung hat es geschafft, dieses Paradies, einen Traum schlechthin, selber zu betreiben. Ganz Nepal ist auf die Betreibung dieses Paradieses fuer Touristen angewiesen. Das kann diesem Land momentan auch niemand vorwerfen, und ich wuerde ihnen diese Kurbel auch nicht aus der Hand nehmen wollen. Aber – keine Inszenierung ohne die trennende Wand. Das ist die Bedingung des Spektakels. Ich habe es entlang der Haeuserfassaden, der Berge, ja sogar der Gesichter ausmachen koennen, dieses transparente Trennwaendchen. Photogene Gesichter mit bitterer Wahrheit in den Pupillen, traditionell geschmueckte Haeuser, wo der Tod ein und ausgeht wie ein Stammgast. Man kann diese zweischneidige Realitaet ignorieren, oder man kann unerbittlich drauf eingehen. Wie ich. Ich breite morgens die Zeitung ueber den Tisch aus und lese Nachrichten ueber depressivste Armut und den Freitod junger Frauen. Ich wuensche mir, dass diese Nachricht ein Loch in die Zeitung brennt, nein, vielmehr, dass sie Loecher in diesen 24Stunden Ferienfarbfilm brennt.
Die Rueckwand des bequemen Paradieses ist eher das Gegenteil, ja, aber dafuer “echt”. Genug von Paradiesen!
Davon habe ich die Nase langsam voll. Reden wir doch lieber von Realitaet und Realitaeten.
In einem malerischen Huegeldoerfchen stiegen wir fuer drei Naechte ab. Das Gasthaus, in dem wir wohnten, vewoehnte mit hoelzerner Gemuetlichkeit und unbefangenem Umgang des freundlichen Personals. Eines Nachmittags sass ich im leeren Cafe, und die Hausangestellte stellte mir uebliche Fragen nach Familie, Beruf, Kindern etc. Etwas schwunglos gab ich darauf Antwort, fragte aber dann gleich nach ihrer Familie. Zwei Kinder. Etwas angeregter fragte ich nun, ob diese auch hier wie all die anderen vielen Kinder in Uniform zur Schule gingen. Keine Antwort. Die wenigen englischen Worte reichen jetzt nicht mehr. Glaenzende Augen und gestikulierende Arme und abwechslungsweise Englisch und Nepali bringen eine stossweise rezitierte holperige Geschichte hervor: Kinder nicht hier … geschieden … Unglueck – die Haende fliegen in die Luft, die Augen zeichnen zwei Kreise – grosse Tochter im Internat in Pokhara … kleine Tochter beim Mann … schlechter Mann … Alkohol … mit 14 geheiratet … keine Familie mehr … zweite Ehe ganz unmoeglich … Schande … bin nicht schoen … das Leben ist zu Ende … hier gut … Menschen helfen … ich bin 24.
Sie ergreift meine Arme und haelt sie an die ihrigen, wie frueher, als wir Maedchen verglichen, wer ist braeuner aus den Ferien zurueck gekommen?
Unsere Arme haben genau dieselbe Farbe. Es ist ungerecht, heult das Kind in meinem Kopf los.
Ich schaue sie an, versuche mich aber zusammenzureissen. Es ist vorbei, sage ich. Dein Leben ist noch nicht vorbei, und du traegst keine Schuld an dem, was passierte. Es bleibt dir Zeit fuer Besseres. Du bist auch schoen. Etwas Gescheiteres vermochte ich leider nicht zu sagen. Sie kniff mich lachend in die Wange.
Alles vergeht, Gutes sowie Schlechtes. Das ist das einzig Troestliche in diesem Augenblick. Ein Augenblick im selben Herzschlag:
Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha …