Tamga, Wohnung Nr.36 – Irinas Welt
Da Karakol nicht am Issyk Kul liegt, wir aber schon einen guten Vorgeschmack des grossen Sees bekommen hatten, wollten wir unbedingt noch an der schoeneren Suedkueste entlangfahren. Mit einem alten schepprigen Bus und, o weh, einem noch viel aelteren Fahrer, ein hageres langsames Maennchen in den Achtzigern, brausten wir los. Die Fahrt war gar nicht so schlecht, und heute weiss ich, dass ich hier immer lieber mit einem Greis mitfahre als mit einem jungen Typen. Die Landschaft am See ist trocken braun, die Berge erheben sich im Dunst hinter gruenen Pappelwaeldern und Alleen. Wie wir am See entlangkurvten, sahen wir immer wieder groessere und kleinere Straende, an denen sich lustigerweise meistens nur Kuehe raekelten. In Tamga stiegen wir aus und sahen bis auf die Bushaltestelle, den See dahinter und einen grossen braunen Huegel auf der anderen Seite gar nichts. Ab und zu kamen heubeladene Lastwagen herangefahren, die so beladen waren, dass der Fahrer im Fuehrerhaeuschen nicht mehr zu sehen war. David fand, dass die Laster aussahen wie grosse Pumuckls. Mit unserem Gepaeck liefen wir den Huegel hoch, um in das Doerfchen Tamga zu kommen, wo anteilsmaessig mehr Russen wohnen. Es war sehr heiss an dem Tag, und wir begannen uns schon wegen Bloedsinn mal wieder leicht zu streiten, von wegen “Links”-“Nein, rechts, komm jetzt..” und dem Ueblichen, was halt waehrend einer gemeinsamen Reise so auftauchen kann. Wir suchten ein Guesthouse. Die Strassen in Tamga sind eigentlich einfach Wege, und Strassenschilder existieren in dem Sinne nicht. Manchmal steht was. Die Hausnummern sind aber vorhanden. ICh weiss nicht, war die Hausnummer falsch oder das Hotel ganz an einem anderen Ort, wir liefen die staubige Strasse richtung Sanatorium hoch, dort um die Kurve und waren wieder am Dorfrand. Da kam vom Feld eine Frau auf uns zu mit Kartoffeln, Kohl und Aepfeln bepackt und im Strohhut. Ich fragte sie, ob sie eine Idee haette, wo das Guesthouse sein koennte. Sie stellte schwer atmend das Gemuese hin und hielt einen MOment inne. Schliesslich schlug sie vor bei ihr zu uebernachten, sie wohne gleich im kleinen Wohnblock im Sanatoriumsgelaende. Wir waren einverstanden. Die Frau stellte sich vor als Irina, sie war Russin und etwa um 65. Ein richtiges Mami. Sie erklaerte sicher zehnmal auf welcher Etage sie wohnt und die Wohnungsnummer – die naemliche Nummer 36. Das Sanatorium, ein Relikt aus Sowjet-Glanz-und-Gloria-Tourismus, sah stillgelegt aus, obwohl einige “russische Sportler” dort oft unterkaemen oder andere Gaeste. Bei Irina zuhause war es sehr gemuetlich und belustigend eigenartig. Im WOhnzimmer, wo zwei Betten fuer Gaeste bereitstanden, schien sich seit den 70er,80ern nichts mehr veraendert zu haben. Die Zeitschriften aus der Zeit lagen da, als waeren sie am Vortag eben grad noch gelesen und kurz zur Seite gelegt worden. Kirgisisch waren die grossen Wandteppiche, russisch die alten Schwarzweissfotos. Irina hat kein Gas in der Wohnung und kein warmes Wasser. Gut sei es gewesen in der Sowjetunion daher, meinte sie, alles sei gratis gewesen oder billig und vor allem vorhanden. Irgendwann sei das warme Wasser verschwunden, irgendwann das Gas. Der Hahn wurde zugedreht. Im Badezimmerchen kochte sie die Kartoffeln auf einer elektrischen Platte. ICh las etwas, und David schlief kurz. Wir sahen aus wie ein Ehepaar aus den 60/er Jahren in dem Interieur. Irina kochte uns Kartoffeln, dazu gab es Gurken, Speck (nur das Fett davon, gesalzen, unverdaubar wahrscheinlich aber essbar) und Mayonnaise und natuerlich Schwarztee. An der Kuechenwand hing eine grosse Weltkarte. Fast drei Stunden sassen wir mit ihr in der Kueche und redeten. Fast vergassen wir den Issyk Kul, wo wir doch baden wollten. Sie hatte frueher im Sanatorium als Physiotherapeutin gearbeitet und wohnte daher in dem Block, der zum Sanatorium gehoert. Sie kommt urspruenglich aus Omsk, hat aber kirgisische Staatsbuergerschaft. In ihrem Pass steht: Buergerin Kirgistans, Nationalitaet: Russin. Sie haette es verpasst damals die russische Staatsbuergerschaft anzunehmen, das waere wohl besser gewesen. In der Sowjetunion sei halt alles offen gewesen. Sie haetten sehr wenig. Russland gilt als reicheres Land,wobei ich immer den Eindruck habe, dass sich das im Verhaeltnis wieder aufhebt. Rentner leben auch in Russland erbaermlich. Es sei gerade eine Zeit, in der viele Russen nach Russland abwanderten. Ab 2007 soll in Kirgistan Kirgisisch offizielle Amtssprache werden, und auch Lehrmaterial soll in kirgisischer Sprache verfasst werden, das sei eine Motivation fuer viele zu gehen. In der englischsprachigen Zeitung Central Asia News lasen wir spaeter genauer darueber. Vladimir Putin verabschiedete ein Gesetz, laut dem ab 2007 Russen, die im Ausland oder ehemaligen Sowjtetrepubliken leben, erleichtert in Russland eingebuergert werden und zum Neuanfang unterstuetzt werden sollen. Bis jetzt sind schon Tausende von Russen in ihre Heimat zurueck. Wir fragen uns, was das wohl fuer Folgen fuer die jeweiligen zentralasiatischen Laender hat. Gegen fuenf Uhr rissen wir uns mal los, den dritten Tee dankend ablehnend und liefen zum See hinunter. Der Weg war ziemlich lang und endete am supersowjetischen Sanatoriumstor, einer Trouvaille von Sowjetkitsch. So schoen! Links und rechts vom grossen bunten Torbogen standen Fallschirmspringer und natuerlich FallschirmspringerIn in Lebensgroesse und salutierten, den kleinen Rucksack auf den Ruecken geschnallt. Am See unten gab es tatsaechlich einen kleinen umzaeunten Sportplatz, der so bunt war wie ein Spielplatz. Dort stemmten starke Russen Hanteln und sprangen Seil. Ab und zu rannten wieder zwei Jungs an uns vorbei. Am See waren wir fast alleine. Weit weg fuhr einer Wasserski, krampfhaft das Seil haltend hinter dem orangen Boot. So war der Issyk Kul wirklich schoen, eindruecklich wie das Meer. Eine grosse bunte Raupe kroch ploetzlich ueber meinen Fuss. Nachdem wir diese von ihrem Seeweg abhalten konnten, liefen wir alles wieder hoch. Im Sanatorium gab es ein kahles Cafe, wo es aber guten Laghman (Nudeln, Fleisch, Tomaten) gab und Tee. Das Dorf war gegen Abend ausgestorben, Kuehe liefen durch die Strassen auf dem Heimweg nach einem langen Weidetag. Ein paar Frauen unterhielten sich kauernd am Wegrand. Alte Maenner sassen vor den Hauseingaengen in ihren Kalpaks (kirgisischer hoher Filzhut). Irina hatte uns vor “betrunkenen Kirgisen”gewarnt, die sehr unangenehm sein koennten. Ab und zu werde ein Sportler von solchen in die Mangel genommen. Die Leute seien im Grunde genommen gut, doch sie vertruegen nun mal keinen Alkohol. Ich hatte sie gefragt, ob es Konflikte gaebe zwischen Kirgisen und Russen. Sie sagte ja, das gaebe es. Im Gross und Ganzen eigentlich nicht, doch auf gewissener Ebene schon, im Dorf z.B. unter der aelteren Bevoelkerung, manchmal unter den Jungen, wenn sie getrunken haetten und einen Grund zu streiten suchten.
Am naechsten Morgen verliessen wir bei Zeiten, nach kraeftigem Fruehstueck mit Plov (Reisgericht mit Fleisch) Irinas kleine Siebzigerjahrewelt und gingen zur Bushaltestelle. Zu erst allerdings gingen wir am Strand hinter der Haltestelle nochmals baden ;).
Auf den Bus warteten wir schliesslich ueber zwei Stunden, die kleinen Busse waren meistens bereits ueberfuellt. Autos hielten selten an oder verlangten viel zu viel nach Kochgor. Ein Mann kauerte dort mit uns, einer der irgendwann schrecklich was abbekommen haben musste, Narben verliefen ueber Stirn und Wangen, ein Ohr war nur noch ganz schlecht. Er half uns einen Bus zu finden und in Bakonbayevo umzusteigen. EIn Paar Russen waren per Autostop und mit Wassermelone unterwegs. Niemand nahm sie aber mit, so liefen sie zu Fuss los. Wir schafften es irgendwann einen Bus mit wenig Platz zu finden. Ein neuer Abschnitt begann – Kochgor und die Fahrt an den Song Koel (Koel bedeutet im kirg. “See”).
September 21st, 2006 at 5:02 pm
Hm, sehr interessant.. Aber diese Leute leben noch, oder? Obwohl es kein warmes Wasser und Gas gibt, kämpfen sie für ihr Leben. Es ist eine Überlebensfähigkeit.