May 13, 2006

In der Hitze erscheinen die Ahnen…

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 1:32 am

Ein heisser Maiabend. Im Unterrichtssaal ist es beklemmend heiss. Es ist 17.40 h. Die gut achtzig universitären Ahnen starren nachdenklich, erhaben, ermahnend, müde von den Wänden auf uns, das ebenso müde, zum Tode ergebene Auditorium. Der junge Professor begibt sich auf seine elliptische Laufbahn ums Katheder. Mit dünner Kreide zeichnet er ein feines Netz von Symbolen auf eine bis zu Silbergrau verkratzte Wandtafel. Ich überhöre jenste Worte und studiere die Brillenmodelle der greisen Ahnen und Ahninnen.?Es scheint, als ob sie schon viel zu lange hier hängen als tote Gelehrtenreihe in Sepia Schwarzweiss. Parade macabre. Da ist in der oberen von zwei Reihen, als zweiter von links, ein sanftmütig lächelnder Mann mit polierter Glatze und Brille aus Doppelglas zu entdecken. Ein gewisser Herr Alekseev. Verhalten guckt er etwas gegen die Fensterfront. Geheimnisvoller Ausdruck um den Mund… Mona Lisa smile…?Irgendwo mitten aus der schwarzweissen Menge kommt ein stumpfer Blick. Die überproportionierten Brillengläser, tief auf die Nase geschoben, nehmen dem älteren ergrauten Mann die menschlichen Züge. Verglaster Wissenschaftler. Belesenheit, Zerlesenheit, Müdigkeit, Vergessenheit…?Ins Auge sticht ein gewisser Dovartur, so könnte er ungefähr heissen, müsste mich dem Herrn etwas nähern, ums genau zu sehen.?Weisser Schädel, das Gesicht wird von einem schwarzen Balken, Adorno in Vollendung, in zwei Hälften geteilt.?Ach, und da ist noch ein wichtiger Stern in diesem Ensemble. Derzhavin, in ehrenamtlich vaterländischer Tracht. Links von ihm guckt ein grimmiger Troll, ein Schopenhauer mit schwarzen buschigen Augenbrauen, durch den Lehrsaal.?Kopf und lefzenartige Mundwinkel bedeckt mit weissem Pelz. Etwas aus der menschlichen Vorzeit sogar scheint in diesem Pantheon der Professorenschaft aufzutauchen.?Eine Frau mit abgründigen, schwarzen Augenringen eult richtung Professor Stefan (Name leicht geändert), der gerade bei der “Zentrierung der Struktur“ angekommen ist.?Ein sympathischer, schüchterner Mensch, der die Blicke seiner Studenten scheut. Die Mädchen schreiben seine Worte fleissig mit wie Sekretärinnen.?Wieder zieht er mit dünner Kreide einen geheimnisvoll unsichtbaren Kreis auf der Wandtafel. In der Mitte befindet sich ein kleiner Punkt, darum herum sind unsichtbare kleine Punkte. “Das Zentrum – telos, Wesen, Gott, aliteja, Transzendenz.”?Ich habe jedes Draussen vergessen. Ich starre diesen kleinen Punkt fiebrig an, pulsierend vor Hitze, und warte darauf, dass er einfach zerspringt und die Ahnenformation auseinanderwirft.?Nichts dergleichen. Ich nehme einen Schluck aus dem Tetrapack und denke an den Ananasgeschmack, der mich über die letzten zehn Minuten rettet.

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