August 12, 2006

Novosibirsk und Signora Elenas unglaubliches Kuechenland

Filed under: Von Petersburg nach Turkestan — sarah @ 6:42 pm

Ankunft in Novosibirsk im anbrechenden Morgen. Wir konnten direkt im Bahnhof selber in einem Poluljuks Zimmer (Halbluxus Zimmer) uebernachten. Wenn wir aus dem Zimmer rauskamen, standen wir auf einer Bruestung und blickten auf einen riesigen schoenen Wartsaal hinunter. Es kam mir vor, als wuerden wir auf einer Kirchenempore uebernachten. Der sog. Halbluxus zeigte sich damit, dass es kein echtes WC gab, sondern eine Campingtoilette. Ansonsten war das Zimmer riesig, mit allen Schikanen. Am Nachmittag trafen wir Karin, die einen guten Monat in Novosibirsk verbrachte, dort bei einer Soziologin ein Praktikum in der Bibliothek machen und gleichzeitig bei deren Mutter wohnen konnte. So wurden wir von Karin fuer ein paar Tage in die Wohnung von Elena eingeladen, mit der Vorwarnung, dass man sich in den Buecher- und Geschirrtuermen verlaufen koenne. Wir fuhren in das Akademgorodok (Akademisches Staedtchen), etwa 40 Minuten mit der Marschrutka. Dieser Ort ist am Obsee gelegen, einem Reservoir des Ob, mitten im Nadel- und Birkenwald. Es ist das wissenschaftliche Zentrum von Sibirien und hat studentisches Flair.Der Ort ist ungewoehnlich, da er irgendwie wie ein riesiger Campus wirkt, andererseits dort verschiedenste Leute wohnen.  Elena und ihre Tochter Tatjana sowie deren Mann wohnen in zwei Wohnungen mit einer Verbindungstuer. Wie wir reinkamen in das – ich nenns “intellektuelle”- Paradies, sahen wir zuerst eine hohe vollgepackte Buecherwand, davor noch Kisten mit Buechern. Daneben einen grossen Milchkontainer, bis oben voll mit Honig. Ein Kuehlschrank mit Schreibsachen und Papierchen, Hueten und Kalendern drauf, stand in der Ecke, fast die Durchgangstuer verdeckend. An der Wand zwischen Tuermen von weiteren Sachen – ein Garderobenspiegel mit ganz vielen bunten Ketten behaengt. Karin zeigte uns das Zimmer, wo wir zu dritt drin schlafen wuerden. Wuchernde Pflanzen auf dem Fenstersims. Eine, die sich von der Decke sogar auf das Bett herunterringelt, und rundherum Buecher, Buecher, Buecher… Antike Philosophie, Sowjetgeschichte, Krimiautorinnen, Mark Twain… Da lag noch so eine Schachtel rum, wie eine Pizzaschachtel, das habe ich nicht so ganz begriffen, da war ein Bild von Dostojewskij draufgeklebt. Dostojewskij Pizza Service? Jedenfalls kamen wir in die Kueche, und ich wusste, das war nun das Schlaraffenland. Davon hatte ich als Klein gelesen. Das Land, wo es keine Rolle spielt, ob du nun 3 oder zehn Tomaten isst, denn die Schuessel spuckt immer neue aus. Die Broetchen fallen vom Himmel, das Huhn fliegt gebraten durch die Luft, die Kirschen und Aepfel wachsen zum Fenster herein. In der sehr hohen Kueche, stand in der Mitte ein grosser quadratischer Tisch, bei leeren Zeiten war ein kariertes Tischtuch zu sehen, ansonsten stand dort immer eine volle Salatschuessel, Teetassen, Kannen, Loeffel, ein Korb voller Brot, ein Becken voll von frischem Gartengemuese. An den Knaeufen der Einbauschraenke hingen Saecke voll mit Nuessen, Aepfeln, Bonbons… Ueber den Tisch schaute man sich durch lange Pfannen- und Tellerschluchten an, und fast hoerte man sein eigenes Echo. Die Suppe schlummerte brodelnd die ganze Zeit vor sich hin, im riesen Topf. Elena, die kleine Signora, die vor wenigen Jahren zur Katholikin geworden war, Liebhaberin der italienischen Sprache und italienischer Lieder, verschwand zuweilen hinter ihrem ganzen Werk. Die Pflanzen auf dem Sims daempften das Licht in der Kueche. Man hatte beim Essen unbedingt immer einen Gemuesetopf oder einen Vorratssack zwischen den Beinen. Nachts, ich konnte nicht schlafen, schlich ich mich in die Kueche und las dort volle drei Stunden. Diese Kueche und Elena, die mir beherzt die Romanze Santa Lucia  vorsang, werde ich nie vergessen koennen. Es war herrlich schoen dort.

3 Responses to “Novosibirsk und Signora Elenas unglaubliches Kuechenland”

  1. Krusenstern Says:

    Ueber Dein “Halbluxus-Zimmer im Bahnhof Novosibirsk” habe ich

  2. Krusenstern Says:

    Ueber Dein “Halbluxus-Zimmer im Bahnhof Novosibirsk” habe ich in meinem Weblog berichtet und ich hoffe, dass viele meiner Leser den Weg zu Dir finden.

    Im Moment sind übrigens einige bloggende Eidgenossen in Russland unterwegs, so drei Zürcher Velofahrer zwischen “Paradeplatz-Roter Platz” und ein junger Schweizer, der zu Fuss von Zürich nach Moskau wandert (über ihn werde ich bald einmal berichten, im Moment steckt er irgendwo in der Tatra…).

    Ich wünsche Dir und David eine schöne Zeit im “Wilden Osten”.

    Poka, poka!

    Jürg

  3. Podvalov Says:

    Hallo Sarah

    Ich bin via Krusenstern auf Dein Blog gestossen und habe voller Freude festgestellt, dass Du im Blogroll auf mein Blog linkst! Merci vielmool! 😉

    Nach kurzem durchstöbern natürlich auch ein Kompliment für Dein Blog! N.B. Ich höre v.a. gerne russischen Rock, im speziellen Zemfira! 😉

    Bin zur Zeit auf “Heimaturlaub” in der Schweiz und löse gerade meine “alte” Wohnung auf, da ich endgültig nach Kiew ziehen werde – darum läuft im Moment auch nicht viel auf meinem Blog…

    Werde morgen Freunde treffen, die in den letzen Wochen auch in Sibirien waren – genau gesagt in Novokusnez.

    Herzliche Grüsse us dä Schwiiz,

    Podvalov

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